Die Journalismus-Dozentin der ZHAW, Helga Kessler, hat ein Buch über Placebo veröffentlicht. Im Gespräch erklärt sie, was die Scheinmedikamente mit Kommunikation zu tun haben. Und warum PatientInnen und ÄrztInnen besser miteinander reden sollten.
Von Lionel Hausheer, Berufspraxisassistent am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft, freier Texter und Philosophie-Student an der Universität Wien
Helga Kessler, Sie haben zusammen mit zwei Placeboforschern das Buch «Placebo 2.0 – Die Macht der positiven Erwartung» geschrieben. Was ist an Zuckerpillen genau «2.0»?
Viele denken, dass Zuckerpillen ohne Wirkstoff auch wirkungslos sind. Das ist falsch, die Forschung ist da mittlerweile sehr viel weiter. Wir sollten Placebos neu denken.
Viele denken dabei an unerklärliche Heilungen. Hat man als Wissenschaftsjournalistin nicht eine gewisse Abneigung gegen unerklärliche Dinge?
Der Placeboeffekt ist alles andere als unerklärlich. Es geht um die Erwartung. Diese stösst im Gehirn Mechanismen an, die Selbstheilungskräfte aktivieren. Man kann die Botenstoffe messen, die aufgrund von Placebowirkungen ausgeschüttet werden. Ich wollte in dem Buch die gesicherten Erkenntnisse, die durch zahlreiche, seriöse, wiederholte Studien belegt werden, vom Hokuspokus trennen.
Einem Arzt im zweiten Weltkrieg sind die Anästhetika ausgegangen. Also spritzte er den Verwundeten Kochsalzlösung. Und war einigermassen überrascht, als die Flüssigkeit den gleichen Effekt zu erzielen schien.
Ich habe das Buch mit vielen solchen Anekdoten ausgeschmückt, weil sie den Placeboeffekt gut illustrieren. Eine andere stammt von einem Naturheilkundler an der Berliner Charité. Er sagt, wenn alles nicht hilft, setzen wir Blutegel an! Er berichten von Patienten, die kaum mehr laufen können und nach der Blutegelbehandlung regelrecht die Krücken wegwerfen.
Worum geht es denn hier, wenn es nicht die Blutegel sind?
Es geht um die geweckte positive Erwartung des Patienten, die dann heilende Effekte anstösst. Blutegelsetzen ist ein unglaublich performativer Akt, mit gelungener Kommunikation kann man dieselbe Wirkung erzielen.
Dabei ist Reden als Therapie eigentlich keine neue Idee.
Während dem grössten Teil der Menschheitsgeschichte hatte man nur Sprechen und Hoffnung als Medizin zur Verfügung. Fürsorge und Interesse, in Form von Amuletten oder Ritualen. Wenn der Arzt von heute einen weissen Kittel und ein Stethoskop trägt, wirkt auch das als Placebo.
Kommunizieren denn die Mediziner zurzeit nicht gut genug?
Das ist ein wichtiger Kritikpunkt von uns. Diese «sprechende Medizin» wird im Studium gar nicht oder nur noch sehr am Rande behandelt. Dabei ist sich die Ärzteschaft eigentlich einig über die Wirkung von Placeboeffekten. Wir schöpfen die Bandbreite der medizinischen Kommunikation momentan einfach nicht aus.
Wie könnte man sie ausschöpfen?
Indem eine Ärztin, ein Arzt, gut zuhört, auf den Patienten eingeht und Hoffnung gibt. Man kann viel bewirken, wenn man empathisch und vor allem verständlich kommuniziert.
Wie kommuniziert eine Ärztin verständlich?
Indem sie ehrlich ist und Dinge so erklärt, dass die Patienten es tatsächlich verstehen. Es ist ein Unterschied, ob die Ärztin nach Vorschrift behandelt oder sich Zeit für den Patienten nimmt. Das merkt der Patient natürlich, und es hat einen Einfluss auf den Heilungsprozess. Ärzte können Kommunikation bewusst einsetzen, um Placeboeffekte auszulösen. Das ist die wichtigste Botschaft unseres Buchs.
Sagt man der Patientin, dass die Zuckerpille nur für die Hoffnung ist?
Placebobehandlungen ohne das Mitwissen der Patienten sind ausserhalb von Studien verboten. Es gibt aber Studien, bei denen die Patienten wussten, dass sie ein Placebo bekommen. Auch bei eingeweihten Patienten konnten Placeboeffekte nachgewiesen werden.
Man kann also das Buch getrost lesen und trotzdem als Patient von einer Placebobehandlung profitieren?
Die Wirkung bleibt und offene Kommunikation verstärkt die Effekte eher. Als PatientIn kann man mit seinem Hausarzt auch vereinbaren, dass man in bestimmten Situationen mit einem Placebo behandelt werden möchte. Für das Buch habe ich mit EthikerInnen und JuristInnen gesprochen, die zu diesem Bereich forschen. Vereinfacht gesagt ist die Placeboabgabe dann erlaubt, wenn die PatientInnen über den Placeboeffekt aufgeklärt wurden und ihre grundsätzliche Zustimmung erteilt haben.
Für wen ist das Buch gedacht?
Es richtet sich an PatientInnen, PflegerInnen, ÄrztInnen, Fachpersonen und ForscherInnen. Ich habe das Buch so geschrieben, dass es auch als einfacher Lesestoff zu lesen ist, fast boulevardesk.
Der Verständlichkeit zuliebe?
Der guten Kommunikation zuliebe. Auch in der Medizin gilt: Die wirkungsvollste Kommunikation ist offen, ehrlich und direkt. Im medizinischen Bereich heisst wirkungsvoll bessere Heilungschancen. Aber man darf nicht vergessen, dass das immer nur in Kombination mit einer sinnvollen Therapie gilt. Bei einem Beinbruch oder einer Krebserkrankung sind Placebos alleine selbstverständlich unangebracht.
Zum Buch:
https://ruefferundrub.ch/buecher/medizin-psychologie/item/636-placebo-2-0
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