Dreilaenderbruecke bei Basel Grenzgänger zhaw-angewandtelinguistik

Exil in der Schweiz: eine Grenzgängerin zwischen Ländern und Sprachen berichtet

Basel liegt unmittelbar an den Grenzen zu Deutschland und Frankreich und bildet mit den Nachbarstädten einen durchgehenden Stadtraum. Die nationalen Grenzen sind für die Bewohner kaum spürbar. Zehntausende begeben sich täglich in ein Nachbarland, sei es zum Arbeiten, Einkaufen oder zur Erholung. Sie pendeln zwischen Ländern und Sprachen. Am 17. März 2020 wurden die Grenzen aufgrund der COVID-19-Pandemie geschlossen. Eine Grenzgängerin berichtet von ihren Erfahrungen.

von Anne Catherine Gieshoff, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am IUED Institut für Übersetzen und Dolmetschen

 «Ohne Witz? Sie lassen mich nicht durch?» Der Zollbeamte schüttelt den Kopf. Ich stehe mit meinem Velo an der deutsch-schweizerischen Grenze zwischen Basel und Weil am Rhein, wo sonst das Tram alle 7 Minuten durchfährt. Ich erkläre, dass ich nur 500 Meter weiter über die nächste Brücke in Huningue wohne, auf der französischen Seite. Dass ich nur einen Termin in Basel hatte und wieder nach Hause möchte. Dass ich einen deutschen Ausweis habe. Er lässt mich nicht durch. Die Grenze nach Deutschland ist zu. Ich muss zurück.

Wieder nach Basel. Durch das Industriegebiet rüber zur französischen Seite. Zum ersten Mal in den sechs Jahren, die ich im Basler Raum lebe, sehe ich Zollbeamte. Ich werde stutzig. «Wird die französisch-schweizerische Grenze auch geschlossen? Was ist mit Grenzgängern?» Wie viele andere in der Basler Region auch, arbeite ich in der Schweiz, wohne aber in Frankreich. «Auch Grenzgänger werden nicht so einfach über die Grenze können.» «Und wann wird die Grenze geschlossen?» «Naja, bis um halb zwölf, zwölf sind wir noch hier. Danach kann ich keine Aussagen machen.»

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Das Dreiländereck mit Basel, Huningue und Weil am Rhein mit den entsprechenden Grenzübergängen. Das Radwegenetz ist lila unterlegt (Quelle: www.openstreetmap.org).

Exil in der Schweiz

Die Liebe meines Lebens wohnt in Basel. Er ist türkischer Herkunft. Über die Grenze nach Frankreich kann er nicht. Es ist 11h. Ich überlege nicht eine Sekunde. Rase nach Hause. Packe das Nötigste in einen Rucksack. Um 11:25 Uhr stehe ich wieder an der Grenze. Der Zollbeamte will mich zuerst zurückweisen, erkennt mich aber dann und winkt mich durch. Ich fahre weiter. Erleichterung.

Bei meinem Freund in der Wohnung fange ich zunächst an aufzuräumen. Nach und nach sickert das Erlebte zu mir durch. Ich habe meine Wohnung verlassen und ich weiss nicht, für wie lange. Zwei bis drei Wochen hoffentlich. Vielleicht länger. Meine Eltern, mein Bruder wohnen in Deutschland. Viele meiner Freunde in Frankreich. Meine Geige ist in Frankreich. Ich konnte sie nicht mitnehmen. Aber singen kann ich immer noch, denke ich plötzlich. Alles wird gut.

Eine neue Normalität

Seit der Grenzschliessung sind zwei Monate vergangen. Die Grenzen sind immer noch geschlossen, aber mittlerweile darf man sie mit einer Grenzgängerbewilligung überqueren. Ich pendele jetzt regelmässig zwischen meinem Freund und meinem Zuhause. In Frankreich hat nun langsam das «déconfinement» begonnen. Wir dürfen wieder vor die Tür, sogar ohne vorher ein Formular auszufüllen.

Zwei Monate. Osterbrunch mit meinen Eltern über Skype. Geigenunterricht über WhatsApp. Frühling durchs Fenster. Zwei Monate, in denen ich gelernt habe, zwei Meter Abstand zu halten, Hände zu waschen, Videokonferenztools zu nutzen und in Geschäften eine Maske zu tragen. Zwei Monate, in denen ich Türkischvokabeln und Geige spielen geübt habe. Kurz gesagt, zwei Monate, in denen ich gelernt habe, eine Normalität zu leben, die noch sehr weit weg ist.

Die Geschichte von Anne Catherine steht stellvertretend für viele ähnliche Geschichten, die sich in den letzten Wochen am IUED Institut für Übersetzen und Dolmetschen zugetragen haben. Menschen, die sich professionell mit Übersetzen, Dolmetschen und mehrsprachiger Kommunikation beschäftigen, leben real – wie Anne Catherine – oder mental in verschiedenen Ländern, Sprachen und Kulturen. Das eröffnet Möglichkeiten, auch wenn nationale Grenzen wegen Corona vorrübergehend geschlossen sind. Als Mitarbeiterin im Forschungsprojekt “CLINT: Kognitive Anforderungen beim Dolmetschen und Übersetzen” beschäftigt sich Anne Catherine mit Methoden zur Messung der kognitiven Belastung beim Dolmetschen.

Credits: Anne Catherine Gieshoff

Die Dreiländerbrücke zwischen Deutschland und Frankreich – auf dem Bild menschenleer – wird jedes Jahr mehr als eine Millionen Mal überquert. Sie ist seit einer Woche wieder begehbar. Ab 15. Juni sollen die Grenzen ganz offiziell wieder geöffnet sein.


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