von Filip Dingerkus, Wissenschaftlicher Assistent im Bereich Journalistik
Wenn es Herbst wird und die Kommunikationswissenschaftler alle zwei Jahre losfliegen und eine (bevorzugt süd-) europäische Stadt ansteuern, dann handelt es sich nicht bloss um einen bizarren Vogelzug – sonderbare Vögel sind Wissenschaftler allemal – , sondern um die ECREA-Konferenz (etwas sperriger: European Communication Research and Education Association), die an die Tür klopft.
Diesmal kam der Ruf aus Lissabon, wo der Winter noch nicht Einzug gehalten hat. Die Jahreszeit zeichnet sich durch ein einladend mildes Klima aus. Die Hauptstadt Portugals erweist sich aber nicht nur in klimatischer Sicht als gelungene Wahl. Dank der kulturellen Vielfalt, dem historischen Charme und dem entspannten Flair rangiert diese Stadt ganz oben auf den Listen der beliebtesten europäischen Städte.
Zeiten der Veränderung
Die ECREA-Konferenz ist sozusagen die Fussball-EM der Medienwissenschaften. Entsprechend hat sie auch einen ähnlichen Stellenwert. Weltmeisterschaften wie die ICA (International Communication Association) oder IAMCR (International Association for Media and Communication Research) sind schon toll, aber die hochkulturellen Europäer brauchen auch mal eine Möglichkeit sich selbst und ihre kommunikationswissenschaftlichen Errungenschaften in familiärem Rahmen zu feiern – unter seinesgleichen versteht sich. Da lässt sich gepflegt die eminente Dominanz der US-Amerikaner ausblenden. Und mit bis zu 2000 Teilnehmern vermisst man die Vereinigten Staaten als grossen Player auch nicht. Die Sektionen sind thematisch aufgeteilt und es ist imposant im Programm 14 gleichzeitig stattfindende Panels zu sehen. Beispielsweise gibt es die grossen Divisionen wie Journalismusforschung oder Wirkungs- & Rezeptionsforschung, aber auch kleinere Gruppierungen wie Diaspora-Kommunikation oder Umweltkommunikation. Aber der Glanz einer Europameisterschaft verblasst ein wenig beim Anblick der detaillierten Start-Aufstellung. Die grossen Namen halten kaum noch Präsentationen, überlassen das Feld dem Nachwuchs. Man fühlt sich an die aktuellen Rotationsexperimente von Jogi Löw erinnert. Sehr löblich, dass die Jungen auch ihre Chance erhalten. Und gut sind sie grundsätzlich auch, aber es fehlt ihnen oft die Erfahrung und Abgeklärtheit, weshalb bei den Panels hin und wieder einige Gegentore in Kauf genommen werden müssen. Hier merkt man eben doch, dass die präsentationserprobten US-Amerikaner fehlen. Denn in der Summe ist die europäische Qualität sehr schwankend und es stellt sich die Frage wo deren namhafte Vertreter bleiben? An der Konferenz lassen sie sich blicken. Wieso nicht an den Präsentationen?
Neuer Fokus der „Grossen“
Die bekannten Personen aus der Kommunikationsforschung lassen sich bei den Präsentationen häufig vertreten. Dies ist verständlich bei dem Publikationsoutput, den sie jährlich liefern „müssen“. Für das Konferenzniveau ist das aber nicht gerade zuträglich. Ob die Veranstalter dadurch ganz nach dem Vorbild der Journalismusbranche Ambitionen verfolgen, sich zu verändern und selbst neu zu erfinden, sei dahingestellt. Vom Aussterben bedroht sind Medienwissenschaftstagungen jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Jedes Land hat meist mehrere in verschieden grossen Ausführungen und mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten. Die abflachende inhaltliche Qualität und die Präsentationsmüdigkeit ihrer Aushängeschilder lassen sich daher auch mit dem Überangebot an Konferenzen erklären. Bei einer derart hohen Eventdichte bündeln sich die Topthemen bei den „Top-shot“-Konferenzen wie der ICA. Für die anderen Konferenzen bleiben oft nur noch Recyclingprodukte übrig, oder Präsentationen mit geringerem Erkenntnisgewinn. Weshalb trotzdem alle versuchen ihr Konterfei in den Gängen spazieren zu führen, hat einen zentralen Grund: Netzwerken. Denn formal gesehen, braucht es eine ECREA als Ort, um sich mit anderen Forschern auszutauschen. Dies entwickelt sich momentan zum Hauptzweck der grossen, aber nicht weltumspannenden Tagungen.
Netzwerken muss gelernt sein
Der mehrtägige Smalltalk, die Selbstvermarktung und die Schaffung von Anknüpfungspunkten an mögliche zukünftige Kooperationen erfordern viel Energie und Durchhaltevermögen. Es ist eine andere Form von Spitzensport, bei dem die Lorbeeren erst nach grossem und langem Einsatz geerntet werden. Das ist anstrengend und der Sinn dieser Mühen kann einem mit der Zeit auch abhandenkommen. Doch die Mühle dreht unaufhörlich weiter und man muss darauf achten, nicht unters Rad zu fallen. Falls man doch einen Moment des Innehaltens sucht, hilft es einmal hinauszugehen und sich von der sanften Lissabonner Meeresbrise den Kopf lüften zu lassen – nochmals einen Hauch von Spätsommer spüren. Nur gut, dass das Konferenzzentrum am Wasser gelegen ist. Die Uferpromenade lädt dazu ein, dem Rauschen der Wellen zu lauschen und die Seele baumeln zu lassen. Wahrlich entspannend diese Stadt.
Und so ist es wie in Wim Wenders Film „Lisbon Story“, in dem ein Tontechniker dem Ruf des befreundeten Regisseurs folgt. Er soll dessen Film in Lissabon vertonen, kann seinen Kollegen (der nach seiner Sinnkrise untergetaucht ist) dort aber nirgends auffinden. Stattdessen macht sich der Toningenieur eigenhändig an die Arbeit und erliegt während dem er die Geräuschkulissen der Stadt einfängt deren Charme. Die ECREA ist wie ein Regisseur, der seine Inspiration verloren hat und abgetaucht ist. Lissabon hingegen ist der Ort, an dem das keine Rolle spielt, denn hier kann jeder seine ganz eigene Inspiration finden oder wiederentdecken.
Übrigens:
Wen es interessiert wie eine internationale Konferenz (in kleinerem Rahmen) über die Bühne geht, kann sich am 5./6. Februar bei uns am IAM in Winterthur selbst überzeugen, wenn es heisst: „Re-Inventing Journalism“.