Besserer Schlaf in der Deutschschweiz? – Unterschiede bei der Nutzung von Benzodiazepinen

Von Lara Jann und Livia Alig

Der Versorgungsatlas des Schweizer Gesundheitsobservatoriums (OBSAN) zeigt, dass die Verschreibung von Benzodiazepinen gesamtschweizerisch in sieben Jahren um beinahe 30% abnahm. Dies wohl unter anderem aufgrund der mittlerweile bekannten Risiken wie Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit und des Reaktionsvermögens, Muskelschwäche, Atemstörung und Abhängigkeit. Alternativen zur Einnahme von Benzodiazepinen sind eine gesunde Schlafhygiene, pflanzliche Mittel sowie andere Medikamente mit weniger Nebenwirkungen.

Der Versorgungsatlas zeigt allerdings auch, dass zwischen den Kantonen grosse Unterschiede in der Verschreibungshäufigkeit bestehen. Die Westschweizer Kantone Waadt, Wallis, Neuenburg, Genf und Jura, sowie das Tessin zeigen fast dreimal so hohe Verschreibungshäufigkeiten von Benzodiazepinen, wie die meisten Deutschschweizer Kantone. Seit 2015 stehen diese sechs Kantone ununterbrochen an der Spitze der Benzodiazepin-Verschreibung. Auffällig ist zudem, dass bei der Altersgruppe der über 70-Jährigen gesamtschweizerisch Benzodiazepine deutlich häufiger verschrieben werden als bei Jüngeren. Ist dies allein durch die erhöhte Krankheitslast im Alter zu erklären? Ausserdem werden Frauen über 50 Jahren öfters Benzodiazepine verschrieben, als Männern im selben Alter. Der Versorgungsatlas zeigt diese spannenden Unterschiede auf, doch bleiben die Hintergründe und Ursachen verborgen.

Gründe für regionale Variationen

In Interviews mit zwei Hausärzt:innen und zwei Heimärzt:innen, sowie durch eine Literaturrecherche, welche wir im Rahmen unseres Masterstudiums durchführten, versuchten wir Antworten zu finden. Der deutliche regionale Unterschied in der Verschreibungshäufigkeit von Benzodiazepinen legt die Vermutung nahe, dass unterschiedliche Mentalitäten zwischen der West- und der Deutschschweiz die Variation erklären (sogenannter «Röstigraben»). Doch so einfach ist die Sachlage nicht. Ein auffälliger Unterschied zwischen den Kantonen mit hohen und denjenigen mit tiefen Verschreibungsraten besteht nämlich in der Art der Medikamentenabgabe. Während in den Westschweizer Kantonen, dem Tessin, Basel-Stadt und Aargau verschreibungspflichtige Medikamente nur in Apotheken abgegeben werden, ist in den meisten Deutschschweizer Kantonen Selbstdispensation durch Ärzt:innen erlaubt. Die Vermutung der Interviewpartner:innen war, dass das Ausstellen eines Rezeptes verglichen mit der direkten Abgabe eines Medikamentes für Ärzt:innen deutlich schneller und unkomplizierter sei. Zudem könnte die fehlende Kontrolle über den tatsächlichen Bezug oder eine allfällige „Mitbehandlung“ anderer Personen die Gefahr einer Abhängigkeit erhöhen. Weiter wurde von den Interviewpartner:innen die Vermutung geäussert, dass die höhere Dichte der Grundversorger:innen und der Psychiater:innen in der Westschweiz und im Tessin Einfluss auf die Verschreibungsrate von Benzodiazepinen haben. Offen ist zudem, wie stark sich die lokalen Verschreibungsempfehlungen in den einzelnen Kantonen unterscheiden.

Geschlechterunterschiede

Nebst den regionalen Unterschieden waren die Geschlechterunterschiede augenfällig und stimmen nachdenklich. Fakt ist, dass Frauen in der Schweiz eine höhere Prävalenz psychischer Erkrankungen und Schlafstörungen aufweisen. Weiter suchen Frauen bei gesundheitlichen Problemen durchschnittlich öfter Ärzt:innen auf und äussern ihre Beschwerden. Somit steigt in der Folge auch die Wahrscheinlichkeit einer Benzodiazepin-Verschreibung. Weiter zählen Schlafstörungen in der Peri- und Postmenopause zu den häufigsten Beschwerden und zu deren Behandlung werden nach wie vor Benzodiazepine eingesetzt, obwohl nebst den Nebenwirkungen auch die Langzeit-Wirkung von Benzodiazepinen gegen Schlafstörungen umstritten ist.

Variationen mit dem Alter

Einerseits zeigt der Versorgungsatlas eine deutliche Zunahme der Abgabe von Benzodiazepinen im Alter, andererseits sind sich Forscher:innen einig, dass insbesondere bei Menschen ab dem Pensionsalter eine Langzeit-Einnahme von Benzodiazepinen das Risiko für Stürze, Hospitalisationen oder Atemprobleme erhöht. In den Interviews wurde darauf hingewiesen, dass Guidelines zu Medikamentenverschreibungen eine Rolle spielen könnten. Guidelines fokussierten meist auf eine Diagnose, seien nicht an die Altersmedizin angepasst und altersbedingte Risiken seien zu wenig bekannt. Ältere Menschen leiden häufig an mehreren Krankheiten gleichzeitig und zeigen atypische Symptomatiken. Zusätzlich würden somatische Beschwerden häufig von psychischen Erkrankungen wie Depressionen begleitet, was möglicherweise zu einer erhöhten Verschreibung von Benzodiazepinen führt. Mutmasslich fehle in den Guidelines die Berücksichtigung des Faktors Alter, wodurch die Verschreibungshäufigkeit steige. Wie überall in der Medizin entwickelt sich auch die Verschreibungspraxis von Benzodiazepinen weiter. Galten die Medikamente bis vor einigen Jahren aufgrund der therapeutischen Breite noch als Mittel erster Wahl, wird heute ein sparsamerer, kurzfristiger Einsatz empfohlen. Gut möglich also, dass vor ein paar Jahren, als die Verschreibungsrate von Benzodiazepinen noch höher war, die betrachtete Altersgruppe ab 70 Jahren eine Erstverschreibung erhielt und mangels Alternativen oder durch Entwicklung einer Abhängigkeit die Benzodiazepine bis heute einnimmt.

Diese Lücken gilt es zu schliessen

Da auf unsere Interviewanfragen nur Ärzt:innen aus der Deutschschweiz antworteten, fehlt die Perspektive der anderen Sprachregionen gänzlich in unserer Analyse. Weiter handelt es sich bei einigen Argumenten lediglich um subjektive Einschätzungen und Vermutungen seitens der Interviewpartner:innen, welche nicht anhand der Literatur bestätigt werden konnten. Eine Überprüfung der lokalen Verschreibungsempfehlungen und weiterer Daten bezüglich Art der Medikamentenausgabe und der Sensitivität gegenüber den Risiken von Benzodiazepinen kann weitere Erkenntnisse über die Ursachen der grossen Variation in der Verschreibung von Benzodiazepinen liefern.

Livia Alig ist als Mitarbeiterin im Qualitäts- und Prozessmanagement im Kantonsspital Graubünden tätig. Lara Jann arbeitet im Medizincontrolling im Kantonsspital Winterthur. Aktuell absolvieren sie den Masterstudiengang in Health Economics and Healthcare Management an der ZHAW.


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