Was macht ein Spital zu einer komplexen Organisation?

Quelle: Adobe.com

Von Johnny van Dijk und Melanie Rotschi

Immer wieder wird davon gesprochen, dass es sich bei Spitälern um komplexe Organisationen handelt. Doch was macht ein Spital zu einer komplexen Organisation und wie wird eine komplexe Organisation definiert?

Von einer komplexen Organisation oder einem komplexen System wird gesprochen, wenn dieses durch ein Netzwerk von Interaktionen und Beziehungen gekennzeichnet ist. Die Gesamtheit der Interaktionen und das Zusammenwirken dieser Beziehungen bringt die Komplexität im entsprechenden System hervor. Weitere Merkmale, welche in solchen Systemen zu finden sind, sind unter anderem Nichtlinearität, Kritizität, Selbstorganisation, Emergenz oder Adaptivität.

Was macht ein Spital zu einer komplexen Organisation?

Ein Spital besteht aus verschiedenen voneinander abhängigen Einheiten, die in Beziehung zueinanderstehen und zusammenarbeiten. Etwa einzelne Fachabteilungen oder Betriebsbereiche wie der Operationssaal. Zudem müssen die Fachkräfte in einem sich ständig verändernden Umfeld täglich neu und interdisziplinär zusammenarbeiten und auf die schwankende Auslastung und den Arbeitsanfall reagieren. Des Weiteren gibt es im Gesundheitswesen viele regulatorische Vorgaben und unterschiedliche Interessen der Beteiligten. Das System “Spital” befindet sich durch diese Gegebenheiten an der Grenze zwischen stabilen und instabilen Phasen und muss in diesem Zustand funktionieren. Dieser Zustand wird als Kritizität bezeichnet.

Was bedeutet Kritizität und wie kann damit umgegangen werden?

Kleinen Veränderungen gegenüber besteht eine hohe Sensibilität. Dies bedeutet, dass bereits kleine Schwankungen, zum Beispiel im Personalbestand oder in der Verfügbarkeit von Ressourcen, zu erheblichen Auswirkungen im System führen. Folgende vier Aspekte fassen die Kritizität in einem Spital zusammen:

  1. Arbeiten an der Grenze der Funktionsfähigkeit respektive an der Grenze der Kapazität. Ein Spital arbeitet oft an der Grenze seiner Kapazitäten, um eine effiziente Nutzung der Ressourcen zu gewährleisten. 
  2. Anfälligkeit für plötzliche Änderungen mit Auswirkungen auf das gesamte System. Ein kritisches Spitalsystem reagiert hypersensibel auf Veränderungen wie Personalengpässe oder Schwankungen in der Patientennachfrage. Diese Anfälligkeit kann dazu führen, dass sich Stresspunkte im System schnell auf das gesamte Netzwerk ausdehnen.
  3. Durch Schwankungen in den Ressourcen kann ein Kaskadeneffekt ausgelöst werden. In einem kritischen Zustand kann eine “kleine Störung” wie der Ausfall eines Diagnosegeräts zu überproportional grossen Auswirkungen führen, da andere Teile des Systems versuchen, diesen Mangel zu kompensieren, dabei aber an ihre eigenen Grenzen stossen.
  4. Herrschender Balanceakt zwischen Effizienz und Reservehaltung. Spitäler müssen ihre Ressourcen effizient verwalten, um kosteneffektiv zu bleiben. Zu dicht am kritischen Punkt zu operieren (ohne Pufferkapazitäten wie zusätzliches Personal oder freie Betten), erhöht jedoch das Risiko von Systemzusammenbrüchen.

Was können Spitäler dagegen tun?

Im Umgang mit Kritizität sind besondere Massnahmen zu treffen. Zum Beispiel können datenbasierte Szenarien in kritischen Zuständen Abhilfe schaffen und das Spital muss in der Lage sein flexibel agieren zu können. Dies erfordert folgende konkreten Punkte:

Vorausschauende Planung: Bezieht sich auf den Prozess, bei dem Spitäler zukünftige Ereignisse und Bedingungen antizipieren und entsprechende Massnahmen entwickeln, um sich auf diese vorzubereiten. 

Der Planungshorizont definiert den zeitlichen Rahmen, für den die Planung vorgenommen wird. Er kann kurz-, mittel- oder langfristig sein und bestimmt, wie weit in die Zukunft geschaut wird, um Entscheidungen in der Gegenwart zu treffen. Ein kurzfristiger Planungshorizont könnte sich auf die nächsten Wochen erstrecken, während ein langfristiger Planungshorizont mehrere Monate umfassen kann. Die Wahl des Planungshorizontes hängt von den spezifischen Zielen, Ressourcen und der Dynamik des Umfeldes des Spitals ab.

Flexible Betriebsführung: Bezieht sich auf die Fähigkeit, Bettenzahl und Personaleinsatz flexibel an den tatsächlichen Bedarf anzupassen. Das kann eine temporäre Umschichtung von Personal in andere Abteilungen oder die Eröffnung zusätzlicher Bettenkapazitäten umfassen. Eine flexible Betriebsführung beinhaltet nicht nur die Möglichkeit, bei Bedarf Kapazitäten aufzustocken, sondern ebenso die Fähigkeit, diese herunterzufahren, wenn die Nachfrage sinkt. In der Praxis ist es für viele Spitäler bis jetzt allerdings unangenehm, Kapazitäten gezielt und bewusst herunterzufahren.  

Monitoring und Datenanalyse: Durch die ständige Analyse der Belegungs- und Plandaten kann ein Spital Spitzen oder Absenkungen in der Nachfrage frühzeitig erkennen und entsprechend vorsorgen. Die Nutzung von Echtzeit-Daten zu Patientenflüssen und -Verweildauer hilft dabei, Engpässe zu vermeiden und die Ressourcenplanung zu optimieren.

Koordinierte Patientensteuerung: Koordinierte Patientensteuerung in einem Spital ist ein systematischer Prozess, der eine strukturierte Aufnahme, Registrierung und Zuweisung der Patient:innen zu den erforderlichen medizinischen Diensten sowie das entsprechende Austrittsmanagement umfasst. Mithilfe moderner IT-Systeme werden die Ressourcenauslastung optimiert und die Behandlungsabläufe effizient gestaltet, um Wartezeiten zu verkürzen, Engpässe zu vermeiden und eine hohe Versorgungsqualität zu gewährleisten.

Integrales Kapazitätsmanagement als Schlüsselfaktor für die Zukunft, auch auf Forschungsebene

Um die Resilienz in einem System zu stärken und der Umgang mit Kritizität zu ermöglichen ist unter anderem das integrale Kapazitätsmanagement ein Schlüsselfaktor. Mit Hilfe des integralen Kapazitätsmanagements können Auswirkungen von Überlastungen minimiert, die Patientenversorgung sichergestellt und notwendige Anpassungen vorgenommen werden, um das System wieder in den stabilen Zustand zu bringen.

Im Rahmen eines assoziierten Projektes des Innosuisse Flagship Projektes «SHIFT» befasst sich die ZHAW gemeinsam mit Vetterli Roth & Partners mit dem integralen Kapazitätsmanagement. In einem gemeinsamen Forschungsprojekt wird ein Assessment-Tool zur Erhebung des Reifegrades einer Klinik im Bereich des Kapazitätsmanagements entwickelt.

Auf die Rolle des integralen Kapazitätsmanagements im Spitalwesen wird in einem nächsten Blog-Beitrag weiter eingegangen. Schauen Sie gerne wieder in unseren Blog rein!

Johnny van Dijk ist Senior Expert bei Vetterli Roth & Partners und Kapazitätsmanager im Spital Bülach.
Melanie Rotschi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fachstelle Management im Gesundheitswesen am WIG.

Literaturhinweise

Alberto, D., Alberto, C., & Gabriel, L. (2017). The Hospital: A Complex Adaptive System. Asian Journal of Medicine and Health, 5(1), 1–5.
Humphreys, P., Spratt, B., Tariverdi, M., Burdett, R. L., Cook, D., Yarlagadda, P. K. D. v, & Corry, P. (2022). An Overview of Hospital Capacity Planning and Optimisation.


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