Physiotherapie im Umbruch

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Von Thomas Egger

Die ambulante Physiotherapie steht aktuell stark im Fokus der Schweizer Politik und Gesellschaft aufgrund der vom Bundesrat in Vernehmlassung gegebenen Anpassung der Tarifstruktur. Durch diese Anpassung soll die veraltete Tarifstruktur der Physiotherapie basierend auf einer Sitzungspauschale neu mit einer Zeitkomponente ausgestattet werden. Doch bereits davor stand die ambulante Physiotherapie und deren kontinuierliche Kostensteigerung unter Beobachtung. Das WIG hat zusammen mit der SUPSI und Unisanté ein Projekt gestartet, welches zum Ziel hat, qualitative Informationen zu den Gründen des Kostenanstiegs und des Nutzens der Physiotherapie zu sammeln. Darüber hinaus sollen potenzielle Forschungsschwerpunkte bei verschiedenen Stakeholdern der ambulanten Physiotherapie identifiziert werden.

Kostensteigerung in der ambulanten Physiotherapie

In den letzten Jahren haben die Inanspruchnahme ambulanter Physiotherapie und die damit verbundenen Kosten stark zugenommen. Das Monitoring der Krankenversicherungs-Kostenentwicklung MOKKE-Statistik zeigt, dass die Bruttorückerstattungen der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung für Physiotherapie über alle Altersgruppen von CHF 50 pro Versicherten im Jahr 1997 auf CHF 150 pro Versicherten im Jahr 2021 angestiegen sind. Allgemein gibt die Schweizer Bevölkerung immer mehr Geld für Gesundheit aus, weshalb die Krankenkassenprämien stetig steigen. Jedoch nehmen die Ausgaben für die ambulante Physiotherapie stärker zu als die sonstigen Leistungsbereiche.

Projekt in den drei grossen Sprachregionen der Schweiz

Nach einer schriftlichen Befragung von Fachpersonen zu den Gründen des Kostenanstiegs und Nutzen der Physiotherapie wurden 18 Expert:inneninterviews geführt. Bei den Interviewpartner:innen handelte es sich um Physiotherapeut:innen, verschreibende Ärzt:innen, Vertreter:innen von Krankenkassen, politische Entscheidungsträger:innen und Akademiker:innen im Bereich der Physiotherapie. Neben den Gründen für den Kostenanstieg und dem Nutzen der Physiotherapie wurden Herausforderungen der ambulanten Physiotherapie sowie deren zukünftige Rolle in der Gesundheitsversorgung besprochen.

Kostengünstig, aber stimmt die Qualität?

Alle Interviewpartner:innen gaben an, dass sich der Nutzen der ambulanten Physiotherapie für eine einzelne Person vor allem auf den Erhalt und die Verbesserung der Funktion des Bewegungsapparats beziehe. Gesellschaftlich gesehen wird Physiotherapie als kostengünstige Alternative zu teureren Behandlungen (z.B. Operationen) angesehen, aber auch als Fördermassnahme für gesundes Leben und Altern. Die Interviewpartner:innen sind sich einig, dass Evidenz vorhanden ist, die Studien jedoch teilweise qualitative Einschränkungen aufweisen. Zudem gibt es wenige Schweiz-spezifische Studiendaten.

Eine Herausforderung sehen die Interviewpartner:innen mit physiotherapeutischem Hintergrund im bereits bestehenden Fachkräftemangel, der sich in den nächsten Jahren zuspitzen wird.  Vertreter:innen von Krankenversicherern oder politische Entscheidungsträger:innen sehen keine Probleme in der Versorgung.

Die Qualität der physiotherapeutischen Behandlungen wird generell als gut angesehen, jedoch wurde von einigen Interviewten ein fehlendes koordiniertes Qualitätssicherungssystem angesprochen, welches Messung, Berichterstattung und Vergleiche der Qualität verschiedener Praxen gewährleistet.

Interviewpartner:innen mit physiotherapeutischem Hintergrund wünschen sich für die Zukunft mehr Eigenständigkeit in ihrem Beruf. Dabei wurden zwei Modelle mehrfach angesprochen, welche schon seit längerem diskutiert werden. Dies ist zum einen der Direktzugang zu einem Physiotherapeuten oder einer Physiotherapeutin ohne ärztliche Verordnung. Zum anderen ist das «Advanced Physiotherapy Practice» (APP), wodurch Physiotherapeut:innen mehr Verantwortung bekommen sollen, indem sie sich durch hohe angeeignete Expertenkompetenzen gewinnbringend in hochkomplexen Patient:innensituationen einsetzen können. Beide Modelle würden helfen, um Hausärzt:innen zu entlasten und wurden vor allem von Personen mit physiotherapeutischem Hintergrund positiv bewertet. Anderer Meinung waren Vertreter:innen von Krankenversicherern. Jene waren der Meinung, dass Physiotherapeut:innen nicht genug ausgebildet seien, um Tätigkeiten und Entscheidungen von Hausärzt:innen übernehmen zu können.

In einem Stakeholder-Dialog werden die Ergebnisse weiter diskutiert. Ziel ist es, weiterführende Forschungsfelder und bereits spezifische Forschungsfragen auszuarbeiten.

Thomas Egger ist wissenschaftlicher Assistent im Team Versorgungsforschung am WIG.


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