Von Johanna Stahl und Prof. Dr. Alfred Angerer
Stellen Sie sich vor, Sie wollen die Prozesse einer Arztpraxis dauerhaft und nachhaltig optimieren. Führen Sie sich diese Praxis dafür zunächst einmal vor Augen und spüren Sie in den Arbeitsalltag hinein. Zeit ist oft Mangelware. PatientInnen warten lange, sei es im Wartezimmer oder um einen Termin zu erhalten. Und auch hier macht sich wie in so vielen Bereichen des Gesundheitswesens der Fachkräftemangel bemerkbar, sodass die Medizinischen PraxisassistentInnen (MPAs) eher zu viel als zu wenig zu tun haben. Dem Team ist zwar bewusst, dass vieles nicht so ideal läuft, wie es laufen könnte. Aber Zeit ist nun einmal knapp, gearbeitet wird so, wie es schon immer war und Geld für ständige externe Beratung zur Optimierung ist auch nicht vorhanden.
Und nun stellen Sie sich vor, dass Sie den Auftrag erhalten, nicht nur diese eine Praxis hinsichtlich Prozessoptimierung zu unterstützen, sondern gleich sechs solcher Arztpraxen im niedergelassenen Bereich.
Mit dieser Herausforderung haben wir uns im Team Management im Gesundheitswesen des WIG in den letzten Monaten intensiv auseinandergesetzt und beim Stichwort «Prozessoptimierung» natürlich gleich unsere Kernkompetenz im Bereich «Lean und Kaizen» aus dem Hut gezaubert.
Im Folgenden möchten wir die drei grossen Lektionen teilen, die wir aus der Arbeit mit den Praxen mitgenommen haben:
1. Zeit nehmen lohnt sich!
Wie oben bereits skizziert, haben Praxen vieles (z.B. viele PatientInnen, viele Termine, viele Anrufe etc.), nur häufig wenig Zeit. Dabei fällt es schwer, sich eben genau diese Zeit zu nehmen, um den Teufelskreisen aus Ertrinken (A) und Sisyphus-Arbeit (B) zu entkommen.
Doch genau hier liegt der Schlüssel zur Verbesserung von Prozessen. Die Praxen, die wir begleitet haben, haben sich Zeit für mehrtägige Workshops genommen, um ein Verständnis für die Philosophie von Lean und Kaizen zu entwickeln und Werkzeuge kennenzulernen.
Der Hauptknackpunkt bestand jedoch darin, auch im Praxisalltag Zeit freizuräumen, um die kontinuierliche Prozessoptimierung im Sinne von Kaizen überhaupt erst einmal zu ermöglichen. Mittlerweile hat das regelmässige Kaizen-Meeting inkl. Besprechung des Kaizen-Boards in allen Praxen Einzug gehalten. Alle Mitarbeitenden sind dazu angehalten und motiviert, im Alltag stets ihre Lean-Brille aufzusetzen und bei identifizierten Verschwendungen (Muda) Ideen zur Verbesserung an das Board zu pinnen, die dann gemäss dem PDCA-Regelkreis (Plan – Do – Check – Act) im Alltag erprobt werden.
2. Es braucht Lean-Kernteams, die den Lead übernehmen
In allen sechs Praxen wurden zudem sogenannte Lean-Kernteams definiert, die i.d.R. aus einer MPA und einem Arzt/einer Ärztin bestehen. Diese Konstellation wurde gewählt, damit die Umsetzung von Lean und Kaizen zum einen top down gefordert und gefördert wird (durch die Ärzteschaft) und zum anderen bottom up (durch die MPAs) getragen und gelebt wird. Die ÄrztInnen schaffen hier also erst einmal Motivation und Zeit, die ihre Mitarbeitenden befähigen, Lean und Kaizen im Alltag zu leben. Die MPA im Lead fungiert dagegen als Gefäss, um im Sinne eines Train-the-Trainer-Ansatzes die Philosophie unter ihren KollegInnen zu verbreiten. So wird Wissen nachhaltig verankert und die Idee von Partizipation umgesetzt.
3. Ein Austausch zwischen den Praxen ist essenziell
Im Laufe der Zusammenarbeit mit den verschiedenen Praxen zeigte sich zudem, dass diese mitunter doch ganz ähnliche Probleme und Herausforderungen teilen. So wurde ein Community-Ansatz etabliert, der einen regelmässigen Austausch zwischen den Praxen ermöglicht. Hier kommen die Lean-Kernteams einmal monatlich für eine Stunde virtuell zusammen und tauschen sich über ihre Probleme und entsprechenden Lösungen aus. Besonders spannend daran ist, dass gegenseitig blinde Flecken sichtbar werden. Wo Praxis 1 bisher gar kein «Problem» für sich identifiziert hat, hat Praxis 6 ggf. eine Lösung parat, die auch in Praxis 1 in die Testphase kommt. So hatte zu Beginn unserer Zusammenarbeitsphase beispielsweise nur eine Praxis eine Online-Terminbuchungsoption etabliert, wohingegen mittlerweile fast alle Praxen diese Lösung eingeführt haben, um erfolgreich auf das hohe Telefonaufkommen zu reagieren.
Erfolgsfaktoren für die nachhaltige Umsetzung von Lean Healthcare
Diese drei oben genannten Lektionen können somit als Erfolgsfaktoren verstanden werden. Sie befähigen Praxen dazu, eine dauerhafte Optimierung ihrer Praxisabläufe umzusetzen – und dies bei einer gleichbleibenden Behandlungsqualität und kontinuierlichen Verbesserung der Serviceleistungen gegenüber den PatientInnen.
Was sich jedoch auch zeigte ist, dass ein Coaching von aussen elementar ist, um den Rahmen zu schaffen, der es den Praxen ermöglicht, aus den oben genannten Teufelskreisen auszubrechen, die Lean-Kernteams auszubilden und die Verbindung zwischen den Praxen herzustellen.
Damit knüpfen wir an unseren Blog von Juli 2022 an, in welchem wir konstatierten, dass Lean-Coaches die Personal-TrainerInnen des Lean-Managements sind. Im Zentrum steht dabei die Motivation derjenigen, die wollen, aber noch nicht können, um ihnen einen kleinen Schubser von aussen zu geben. Ob dieser Schubser nun auch nachhaltig wirkt, werden wir feststellen, wenn die Zusammenarbeit noch in diesem Jahr ausläuft und die Praxen auf sich gestellt sind. Wir werden davon berichten!
Johanna Stahl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fachstelle Management im Gesundheitswesen am WIG.
Prof. Dr. Alfred Angerer ist Leiter der Fachstelle Management im Gesundheitswesen am WIG.
Wer mehr zu Lean im Gesundheitswesen erfahren möchte, kann unter anderem hier vertiefende Informationen finden:
- Unser neues Buch: New Healthcare Management – Digitalisierung als eine der 7 Erfolgskonzepte für das Gesundheitswesen
- Unsere Lean-Wissensseite: leanhealthcare.ch