Wozu braucht es eine Kodierung von Diagnosen und Prozeduren in der ambulanten Versorgung?

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Von Michael Stucki

Wenn Sie wegen Beschwerden eine Ärztin aufsuchen, wird im Verlauf der Konsultation oder nach weiteren Untersuchungen manchmal eine Diagnose gestellt und in Ihrer Krankenakte vermerkt. Wahrscheinlich wird Ihre Diagnose jedoch nicht kodiert, also in einen alphanumerischen Kode übersetzt, und steht so auch nicht für weitere Analysen zur Verfügung.

Dabei wäre eine Diagnose-Kodierung äusserst wertvoll. Sie könnte wesentlich zur besseren Transparenz, Qualität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung beitragen. Die fehlende Kodierung in der ambulanten Versorgung ist beispielsweise ein wichtiger Grund dafür, dass die Verbreitung vieler Krankheiten in der Schweiz nur eingeschränkt bekannt ist. Das WIG hat kürzlich im Auftrag des Bundesamts für Statistik einen Grundlagenbericht erarbeitet und darin die Anforderungen für die Umsetzung einer umfassenden Klassifikation und Kodierung von Diagnosen und Prozeduren in der ambulanten Versorgung untersucht.

Das Fazit: vor einer Einführung einer Kodierung muss zwingend der Verwendungszweck definiert und die Abläufe in Einklang mit den Anreizen der Leistungserbringer gebracht werden.

In der stationären Versorgung werden bereits seit vielen Jahren Diagnosen nach der International Classification of Diseases (ICD) und Prozeduren nach der schweizerischen Operationsklassifikation (CHOP) kodiert. Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) sieht eine Kodierung der Diagnosen und Prozeduren auch in der ambulanten Versorgung vor. Allerdings sind solche Informationen nur bruchstückhaft verfügbar. Prozeduren werden teilweise über den Einzelleistungstarif TARMED erfasst, Diagnosen fast ausschliesslich nur bei Spitälern, die für einige ambulante Fälle auch ICD-Kodes kodieren, oder bei einigen Arztpraxen, die den einfachen «Tessiner Code» nutzen und diesen auf der Rechnung vermerken.

Verwendungszweck ist unklar

Für unser Projekt haben wir Literatur und Abrechnungsdaten ausgewertet sowie 27 Interviews mit Vertretern vieler Anspruchsgruppen im Gesundheitswesen geführt, darunter die Ärzteschaft, die Forschung, die Krankenversicherer oder Ämter.

Eine wichtige Erkenntnis aus den Interviews war die fehlende Definition eines Verwendungszwecks einer umfassenden Kodierung, vor allem der Diagnosen. Weder in den aktuellen Tarifverträgen noch im KVG ist festgehalten, wozu diese Daten erfasst werden sollten. Ohne Verwendungszweck können jedoch keine Anforderungen an das Klassifikationssystem (z.B. ICD-Diagnosekodierung) und an den notwendigen Detaillierungsgrad formuliert werden. Mögliche Verwendungszwecke wären der verbesserte Informationsaustausch zwischen Leistungserbringern, die epidemiologische Überwachung oder die Weiterentwicklung der Tarifstrukturen wie beispielsweise ambulante Pauschalen.

Motivation der Leistungserbringer für Mitarbeit ist zentral

In vielen Ländern werden Diagnosen bereits heute auch im ambulanten Bereich systematisch erfasst. Meist hängt die Vergütung der Leistung direkt von der Kodierung ab, wie z.B. in Deutschland. In der Schweiz gibt es einen solchen spezifischen Nutzungszweck und den damit verbundenen Anreiz zur Diagnose-Kodierung nicht. Da die Leistungserbringer jedoch eine zentrale Rolle bei der Kodierung spielen, ist es besonders wichtig, ihnen deren Nutzen aufzeigen zu können. Die für die Kodierung aufgewendeten zeitlichen und finanziellen Ressourcen sowie Bedenken betreffend Datenschutz bei Datenlieferungen an die Krankenversicherer müssen dabei berücksichtigt werden.

Nebst der Motivation sind für die Datenqualität einheitliche Richtlinien für die Kodierung entscheidend. Ein Kodierungshandbuch müsste u.a. festlegen, welches Klassifikationsinstrument mit welchem Detaillierungsgrad genutzt werden muss und für welche Einheit (Patientin/Patient oder Konsultation) Diagnosen kodiert werden müssen. Schliesslich muss berücksichtigt werden, dass ärztliche Leistungserbringer zwar Diagnosen stellen, jedoch nicht zwingend Diagnosen kodieren können. Es braucht einiges Know-How, um eine Diagnose in einen Kode zu übersetzen. In Spitälern übernehmen speziell ausgebildete medizinische Kodiererinnen und Kodierer diese Aufgabe.

Der Grundlagenbericht ist öffentlich verfügbar. Er enthält nebst einer Übersicht über mögliche Klassifikationssysteme auch einen Blick über die Landesgrenzen hinaus, wo bereits heute Diagnosen und Prozeduren umfassend kodiert werden. Wir haben im Bericht ausserdem Kriterien für geeignete Klassifikationen festgelegt sowie den potenziellen Nutzen und die zu erwartenden Herausforderungen bei einer Einführung einer umfassenden Kodierung beschrieben.

Michael Stucki ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team gesundheitsökonomische Forschung im WIG.


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