Wie viel kostet jede Krankheit? Neue Erkenntnisse zu den ambulanten Gesundheitsausgaben

Von Michael Stucki

Über 50% der Gesundheitsausgaben in der Schweiz fallen im ambulanten Bereich an, beispielsweise bei Hausärzten, Apotheken oder in der Physiotherapie. Offizielle Statistiken zeigen, in welchen Leistungsbereichen und bei welchen Leistungserbringern diese Kosten entstehen und wie sie finanziert werden – hauptsächlich durch die obligatorische Krankenversicherung (OKP) oder direkt durch die Patienten.

Allerdings ist kaum bekannt wie viel wir für die einzelnen Krankheiten ausgeben. Nun haben Forschende des WIG in Zusammenarbeit mit dem Krankenversicherer SWICA die ambulanten Gesundheitsausgaben in der OKP im Jahr 2017 nach 42 Krankheiten in 15 Krankheitsgruppen sowie nach Altersgruppen und Geschlecht zerlegt.

Unsere Studie* zeigt, dass muskuloskelettale Erkrankungen mit 19.2% den grössten Kostenanteil aufwiesen, gefolgt von psychischen Krankheiten mit 12.0% und Erkrankungen der Sinnesorgane mit 8.7% (siehe erste Spalte in Abbildung 1). Trotz ihrer grossen Krankheitslast und ihres grossen Anteils an den verlorenen potenziellen Lebensjahren in der Schweiz folgten kardiovaskuläre Krankheiten (8.6%) und Krebserkrankungen (7.3%) erst auf den Rängen vier und fünf der teuersten Krankheitsgruppen im ambulanten Bereich. Zu den teuersten einzelnen Krankheiten innerhalb dieser aggregierten Krankheitsgruppen zählten Depression (4.3%), Osteoporose (2.7%), Diabetes (2.4%), chronische Nierenerkrankungen (1.6%) sowie Lungen- und Luftröhrenkrebs (1.6%).

Die krankheitsspezifischen Kostenanteile unterschieden sich sowohl zwischen verschiedenen ambulanten Leistungsbereichen als auch in Bezug auf Alter und Geschlecht der Versicherten. Die Studie weist die Kostenanteile für zwölf ambulante Leistungsbereiche aus (siehe Spalten 2-13 in Abbildung 1). Bei den Medikamenten lag der Kostenanteil der Krebserkrankungen bei 14.4% und damit über ihrem Anteil an den gesamten Kosten, während derjenige der muskuloskelettalen (15.3%), psychischen (9.4%) und Sinnesorgan-Erkrankungen (5.8%) tiefer war als ihr Gesamt-Anteil. Die höchsten Kostenanteile bei hausärztlichen Leistungen wiesen muskuloskelettale Erkrankungen auf (23.7%), gefolgt von übertragbaren (13.8%) und kardiovaskulären Krankheiten (12.1%).

Abbildung 1: Prozentuale Anteile der Krankheitsgruppen an den OKP-Ausgaben nach Leistungsbereichen (Jahr 2017; eigene Abbildung basierend auf Stucki et al. 2021). Nicht-Krankheiten umfassen u.a. Schwangerschaften ohne Komplikationen. Lesebeispiel Muskuloskelettale Erkrankungen: Diese Erkrankungen sind für 19.2% der gesamten ambulanten Kosten, für 23.7% der Kosten für Hausärzte, für 9.4% der Kosten für Spezialisten usw. verantwortlich.

Bei der Schätzung der krankheitsspezifischen ambulanten Behandlungskosten sind wir in drei Schritten vorgegangen. Zuerst nutzten wir die detaillierten Abrechnungsdaten auf Individualebene von rund 700’000 Versicherten der SWICA zur Identifikation von Krankheiten, basierend auf Hinweisen auf deren Behandlung. Solche Hinweise können beispielsweise Medikamente sein, die in der Behandlung von bestimmten Krankheiten eingesetzt werden, oder Tarifpositionen aus dem Tarmed, der Analysenliste oder der Mittel- und Gegenständeliste, die auf eine Krankheit hindeuten. Beispiele dafür sind Diabetes-Medikamente, ambulante Radiotherapie für die Behandlung von Krebs, oder Hörgeräte. In einem zweiten Schritt wurden die Kosten dieser Leistungen, die als Hinweise auf Krankheiten genutzt wurden, direkt derselben Krankheit zugeteilt. Nach diesem Schritt blieb ein grosser Teil krankheitsunspezifischer Kosten übrig. Dieser wurde im dritten Schritt mittels Regressions-basierter Methoden den Krankheiten zugewiesen.

Was ist der Nutzen dieser Kostenzerlegung nach Krankheiten?

  • Erstens liefert unsere Studie wichtige Hinweise darauf, welche Krankheiten oder Gruppen von Krankheiten den grössten monetären «disease burden» verursachen. Der Vorteil unseres Ansatzes liegt darin, dass er – anders als bei den verbreiteten Kostenstudien zu einzelnen Krankheiten – Doppelzählungen von Kosten verunmöglicht und so das Risiko einer Überschätzung mindert.
  • Zweitens ist unsere Studie ein wichtiger Baustein für ein systematisches Monitoring der krankheitsspezifischen Kosten über die Zeit. Bestehende Studien – vor allem aus den USA – haben das Potential von Kostenzerlegungen als Instrument zur Identifikation von Kostentreibern im Gesundheitswesen aufgezeigt. Durch eine Kombination der Krankheitskosten mit Daten zur Bevölkerungsgrösse und -struktur sowie Prävalenzdaten können die Einflüsse verschiedener Faktoren auf die Gesundheitsausgaben, z.B. Alterung, Morbidität oder Kosten pro prävalenten Fall, quantifiziert werden. Einen solchen Ansatz hat eine kürzlich erschienene WIG-Studie verfolgt. Für eine ganzheitliche Analyse der Gesundheitsausgaben müssen allerdings krankheitsspezifische Kosten für alle Leistungsbereiche und für mehrere Zeitpunkte verfügbar sein. Wir arbeiten bereits an einem solchen Projekt und erwarten erste Ergebnisse im Laufe des Jahres.

Die hier zusammengefassten Ergebnisse wurden kürzlich in der Fachzeitschrift BMC Health Services Research veröffentlicht. Die Studie ist öffentlich zugänglich.

Michael Stucki ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.

* Stucki, M., Nemitz, J., Trottmann, M., Wieser, S. Decomposition of outpatient health care spending by disease – a novel approach using insurance claims data. BMC Health Serv Res 21, 1264 (2021). https://doi.org/10.1186/s12913-021-07262-x


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