34 Gesetze in 32 Monaten

Was können wir zur Digitalisierung von unserem Nachbarn Deutschland lernen?

Quelle: Colourbox.de

Von Prof. Dr. Alfred Angerer und Stefan Banning

Noch 2018 bezeichnete die Bertelsmann Stiftung das deutsche Gesundheitswesen bezüglich der Digitalisierung als Sorgenkind [1]. Deutschland belegte im internationalen Ranking einen der letzten Plätze (Platz 16). Ein kleiner Trost für unsere Seele – so verzeichnete die Schweiz doch ebenfalls eine schwache Platzierung (Platz 14).

Im Rahmen der Recherche für unseren neuen Digital Health Report 2021/22 stellten wir jedoch erfreut fest, dass seitdem zahlreiche Initiativen zur Digitalisierung in Deutschland lanciert wurden. Zeitungsartikel wie «Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen: 34 Gesetze in 32 Monaten»[2] vermitteln den Eindruck, dass unser Nachbar im Bereich Digital Health unter einer neuen politischen Dynamik mit Siebenmeilenstiefeln voranschreitet. Um von Deutschland nicht weiter überholt zu werden, scheint ein Blick über die Landesgrenzen hier mehr als sinnvoll!

Deutschland – ein Gesundheitswesen im Wandel

Natürlich waren bereits vor der Veröffentlichung des Digital-Health-Indexes im Jahr 2018 einzelne Lösungen zu Digital Health im deutschen Gesundheitssystem vorhanden. Gleichwohl waren diese Lösungen nicht miteinander verbunden – dem deutschen System mangelte es an einer nationalen Strategie, verbindlichen Zielvorgaben und Zeitplänen. Einflussreiche korporatistische Akteure setzten die Digitalisierung eher stümperhaft um oder verhinderten diese gar.

Selbstverständlich entstand auch in Deutschland infolge der Corona-Pandemie ein Digitalisierungsschub. So verzeichneten Telemedizinanbieter gigantische Nachfragesteigerungen. Beim genaueren Blick zeigt sich jedoch, dass entsprechende Voraussetzungen bereits vorher etabliert wurden. So wurde 2019 das Fernbehandlungsverbot aufgehoben, welches vorher telemedizinische Konsultationen praktisch unmöglich machte. Wenn wir uns die parlamentarische Landschaft anschauen, veränderte sich das Bild zur Digitalisierung seit 2016. 

Eine Gesetzesvorlage nach der anderen wurde durch Gesundheitsminister Jens Spahn in das Parlament gegeben. Beginnend beim eHealth-Gesetz im Jahr 2016[3] – darin inbegriffen ein erster Plan für die Einführung der digitalen Infrastruktur – bis zum Höhepunkt im Jahr 2019 mit einer Vielzahl an Gesetzen wie das Digitale-Versorgungsgesetz (DVG) mit einer detaillierten Grundlage zur Digitalisierung des Gesundheitswesens. Einzigartig ist insbesondere der darin enthaltene Passus zu Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA[4]) – landläufig als «Apps auf Rezept» bezeichnet.

Die erste systematische Vergütung von Gesundheits-Apps

Infolge der Verabschiedung dieses DVG-Gesetzes haben nun Versicherte die Möglichkeit, auf Rezept ihrer Medizinerin oder ihres Mediziners eine DiGA verordnet zu bekommen. Damit ist Deutschland das erste Land mit einer systematischen Vergütung von Digitalen Gesundheitsanwendungen. Bemerkenswert ist hier das konkrete Vorgehen. So durchlaufen DiGA zur Kostenübernahme im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung das sogenannte Fast Track-Verfahren, währenddessen eine Bundesbehörde (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) die konkreten Vergütungsvoraussetzungen prüft. Dies ist als absolutes Novum zu bewerten – so werden doch die Akteure der Selbstverwaltung wie der Gemeinsame Bundesausschuss, die ansonsten für die Zulassung zum Leistungskatalog der Krankenversicherung zuständig sind, bei diesem Verfahren nicht berücksichtigt. Akteure, welche die Digitalisierung bisher eher zaghaft umsetzten.

Was wir von Deutschland lernen können

Länder, die bisher eher für zaghafte Versuche der Digitalisierung bekannt waren, können zu Vorbildern im Bereich Digital Health werden. Entscheidend ist ein konkreter Wille zur Veränderung der Digital Health Landschaft – wie das Beispiel der systematischen Vergütung von DiGA prägnant aufzeigt. So ist Veränderung auch in einem föderalistischen System möglich!

Bisher als gegeben angenommene Strukturen wurden hinterfragt und angepasst. Dies zeigt sehr gut, dass auch, wenn der Status quo als «gottgegeben» gilt, Mut zum Wandel stets das Potenzial für innovative Ideen mit sich bringt. Aus unserer Perspektive sollten wir diese Kultur der Veränderung ebenfalls verinnerlichen, den Status quo kritisch beleuchten, aber auch in unserem System vorliegende Good Practices wertschätzen.

Nehmen wir doch das Vorgehen in Deutschland zur Kenntnis und versuchen unsererseits den Digitalisierungsdrive, der auch hier im Zuge der Corona-Pandemie entstand, weiter aufzunehmen. Vielleicht gelten wir dann künftig als Best Practice Beispiel für die Digitalisierung des Gesundheitswesens? Eine Vision, für die es sich zu kämpfen lohnt!

[1] Kostera & Thranberend, 2018
[2] Pharma Fakten e.V., 2020
[3] Anmerkung der Autoren: Das eHealth-Gesetz wurde noch in der vorherigen Legislaturperiode mit Hermann Gröhe als Gesundheitsminister verabschiedet.
[4] DiGA sind Medizinprodukte niedriger Risikoklassen. Es handelt sich meistens um Apps, die Versicherte beispielsweise mit ihrem Mobile nutzen und so unterstützen Krankheiten zu erkennen, zu behandeln oder zu überwachen.

Quellen:

Kostera, T., & Thranberend, T. (2018). #SmartHealthSystems – Digitalisierung braucht effektive Strategie, politische Führung und eine koordinierende nationale Institution (Nr. 5; Daten, Analysen, Perspektiven). Bertelsmann Stiftung. Abgerufen von: https:// www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/ BSt/Publikationen/GrauePublikationen/VV_ SG_SHS_dt.pdf

Pharma Fakten e.V. (2020). Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen: 34 Gesetze in 32 Monaten. Abgerufen von: https://www.pharma-fakten.de/news/ details/1016-digitalisierung-im-deutschen-gesundheitswesen-34-gesetze-in-32-monaten

Wer im Bereich Digital Health informiert bleiben möchte, kann hier vertiefende Informationen finden:

Alfred Angerer ist Dozent und Leiter der Fachstelle Management im Gesundheitswesen am WIG.
Stefan Banning ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachstelle Management im Gesundheitswesen am WIG.


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