Wenn Hüftgelenke zum Politikum werden

Gute Ansätze, holprige Umsetzung: Die Medtech-Branche in Europa ist im Umbruch!

Quelle: Colourbox

Von Stephanie Dosch und Junia Landtwing

Brillen, Hörgeräte und Kontaktlinsen. Heftpflaster, Injektionskanüle und Hüftprothesen. Computertomographen, Silikonimplantate und künstliche Herzklappen. Sie dienen zur Erkennung, Behandlung oder Überwachung von Krankheiten und werden deshalb als Medizinprodukte klassifiziert[1]. In der Schweiz setzten 2019 rund 1’400 Medtech-Unternehmen mit 63’000 Beschäftigten CHF 17.9 Milliarden um. Damit trug die Branche 2.6% des Schweizer Bruttoinlandproduktes bei (SMTI Branchenstudie 2020, S.8). Bevorstehende rechtliche Änderungen stellen die Branche aber vor grosse Herausforderungen.

Tragen Sie eine Brille? Oder aus aktuellem Anlass eine zertifizierte Maske? Sie werden mit grösster Wahrscheinlichkeit auf Ihrer Brille oder der Verpackung der Maske ein CE-Zeichen finden. Dieses zeigt an, dass das Produkt mit den europaweit geltenden Vorschriften konform ist.

In den vergangenen Jahren sind in Europa und der Schweiz gravierende Vorfälle und Missstände bei diversen Implantaten und Prothesen publik geworden (siehe «Implant Files»). Sie liessen Zweifel an der niederschwelligen Marktzulassung und der Überwachung der Medizinprodukte aufkommen. Mit dem Fokus Patientensicherheit hat die EU-Kommission 2017 eine neue Verordnung zu den Medizinprodukten verabschiedet: Der Nutzen von Hochrisikoprodukten muss vom Hersteller mit einer klinischen Studie belegt werden. Alle Produkte müssen eindeutig identifizier- und lückenlosrückverfolgbar sein und Informationen aus einer neuen europäischen Datenbank sollen für PatientInnen und die Öffentlichkeit mehr Transparenz und Verständlichkeit schaffen.

Was bedeutet das für die Schweiz?

Medizinprodukte aus der Schweiz sind in den europäischen Binnenmarkt eingebunden. Beispielsweise ist die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen Teil der Bilateralen I und von den CHF 12 Milliarden Umsatz 2019 der Schweizer Medtech-Firmen gingen mit 5.5 Milliarden 46% des kumulierten Umsatzes in den europäischen Export. Das Schweizer Recht wird deshalb analog zu den europäischen Änderungen angepasst, um für einen reibungslosen Handel zwischen der Schweiz und der EU zu sorgen.
Für Unternehmen in der Schweiz stellen die Änderungen einen beachtlichen Mehraufwand dar. Rund die Hälfte aller Hersteller rechnet damit, ihre personellen Ressourcen aufzustocken und ihr Produktportfolio zu verkleinern, was insbesondere bei kleinen Unternehmen stark ins Gewicht fällt (SMTI Branchenstudie 2020, S.40).

Die Übergangsfrist zur Umsetzung des revidierten Medizinprodukterechts hätte in der Schweiz Ende Mai 2020 enden sollen. Ein zeitlicher Aufschub, bedingt durch die COVID-19-Pandemie, hat die vollständige Inkraftsetzung um ein Jahr verzögert und tritt Ende Mai 2021 vollständig in Kraft.

Ein Blick nach Europa zeigt allerdings, dass die europaweite Umsetzung der Übergangsfrist – Aufschub hin oder her – unrealistisch ist. Ende November 2020 stehen 500’000 zu zertifizierende Medizinprodukte 17 autorisierten Prüfstellen gegenüber. Die EU-Kommission gewährt nun eine prüfstellenlose Übergangsfrist bis Ende 2023. Die aktuelle Umsetzung und die damit verbundenen Engpässe und Nichtverfügbarkeit von Produkten gefährden das Ziel und den Ursprungsgedanken, die Patientensicherheit zu erhöhen.
Es braucht deshalb in der Schweiz und in Europa Massnahmen, dass die Versorgungs- und Patientensicherheit auch in einer Übergangsphase sichergestellt werden kann. Die nächsten Jahre werden für die Entwicklung der Branche wegweisend sein. Es wird also spannend, welches Produktesortiment aus der Schweiz exportiert werden kann und welches effektiv zur Verfügung stehen wird.

Stephanie Dosch ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Teams Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.
Junia Landtwing ist Praktikantin des Teams Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.


[1] Medizinprodukte grenzen sich von Arzneimitteln ab, da ihre Wirkung nicht auf pharmakologischen, metabolischen oder immunologischen Prinzipien fusst.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert