Wie viel würde eine bedarfsgerechte Betreuung älterer Personen zu Hause kosten? Und wieso ist das wichtig?

Abbildung 1: Schematische Darstellung der Kostenübernahme zu Hause im Sinne der Pflegefinanzierung; EL: Ergänzungsleistungen, HE: Hilflosenentschädigung

Von Flurina Meier und Beatrice Brunner

Auch in der Langzeitpflege steigt der Kostendruck. Die Langzeitpflege umfasst v.a. die Pflege der älteren Bevölkerung, sei dies zu Hause, im Betreuten Wohnen oder im Alters- und Pflegeheim und macht mittlerweile ca. 20% der Kosten im Gesundheitswesen aus. Vor allem der Aufenthalt im Alters- und Pflegeheim ist für die Finanzierer kostspielig.

Von Fachexpertinnen und -experten hören wir immer wieder, dass nicht nur ein Bedarf an Pflege, sondern auch ein Bedarf an Betreuung (also Hilfe bei Alltagstätigkeiten, wie z.B. Haushaltsführung, Einkaufen, die Finanzen im Griff haben) zu Heimeintritten führen kann. Eine angemessene Betreuung zu Hause könnte solche Eintritte ins Heim eventuell verhindern. Im Gegensatz zur Pflege müssen die Kosten für Betreuung allerdings fast vollständig von den Betroffenen selbst übernommen werden (siehe Abbildung 1). Die Experten vermuten, dass aus diesem Grund weniger Betreuungsleistungen in Anspruch genommen werden, als notwendig wären. Das alles sind jedoch nur Vermutungen, denn bisher gab es kaum Untersuchungen zu diesem Thema. Man wusste nicht, wie hoch der Bedarf an Betreuung zu Hause bei der älteren Bevölkerung in der Schweiz überhaupt ist, geschweige denn, welche Kosten dabei anfallen. Dies haben wir untersucht.

Was die Studie untersucht hat

In der Studie, welche im Auftrag von Pro Senectute durchgeführt wurde, schätzen wir also, wie gross der Bedarf an Betreuung bei Seniorinnen und Senioren zu Hause ist und wie viel die bedarfsgerechte Betreuung zu Hause kosten würde. Beides berechneten wir sowohl auf Fallebene als auch mittels Hochrechnung für die ganze Schweiz. Wir beschränkten uns dabei auf Personen über 62 Jahren und auf 16 Betreuungsleistungen, welche durch Personen (Freiwillige oder Erwerbstätige) erbracht werden, die für Organisationen im Bereich der Betreuung von älteren Personen (Spitex, Pro Senectute oder Schweizerisches Rotes Kreuz) arbeiten. Nicht eingeschlossen war die informelle Hilfe durch Familie, Freunde und Nachbarn.

Schätzung des Bedarfs an Betreuung zu Hause

Gemäss unseren Schätzungen benötigen 42% aller Personen über 62 Jahren in der Schweiz für eine angemessene Versorgung zu Hause mindestens eine Betreuungsleistung (N=662’384). Bei alleinlebenden Personen ist dieser Anteil mit 60% deutlich höher als bei Nichtalleinlebenden mit 34%. Diese Berechnungen basieren auf der Einschätzung von Expertinnen und Experten, welche für insgesamt 20 Fallbeschriebe (so genannte Falltypen) beurteilten, wie hoch der Bedarf an den 16 Betreuungsleistung im Einzelfall ist. Die Falltypen basierten dabei auf einer Clusteranalyse von Daten einer repräsentativen Befragung der älteren Bevölkerung der Schweiz (SHARE), welche im Anschluss für die Hochrechnung genutzt wurde.

Die häufigsten Bereuungseinsätze fallen laut unserer Hochrechnung in die Bereiche «Soziale Aktivität», «Sport ausser Haus», «Haushaltshilfe» und «Besuchs- und Begleitdienst» (siehe Abbildung 2). Diese vier Betreuungsleistungen zusammen machen 60% aller Leistungen aus, wobei Haushaltshilfe bei den Alleinlebenden stärker ins Gewicht fällt.

Abbildung 2: Resultat der Hochrechnung des Bedarfs an Betreuungsleistungen pro Falltyp auf die Schweiz
Anmerkungen: «Begleitdienst» bezieht sich auf die Begleitung der Kundin/ des Kunden zu einem Termin (z.B. zum Arzt, Therapie oder zum Einkaufen) während der «Besuchs- und Begleitdienst» eine Begleitung zu Freizeitbeschäftigungen (z.B. Vorlesen, Spaziergang, Kulturelles) umfasst. Eine der 16 untersuchten Betreuungsleistungen wurden ausgeschlossen (Sicherheitschecks).

Am stärksten ins Gewicht fallen dabei – auf Grund ihrer hohen Anzahl (N = 159’784) – Personen, die sich einsam fühlen, ohne andere körperliche oder geistige Einschränkungen zu haben. Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass Einsamkeit nichts mit dem Gesundheitswesen oder dessen Kosten zu tun hat. Allerdings ist aus der Literatur bekannt, dass Einsamkeit nicht nur zu Folgeerkrankungen (und damit -kosten) führen kann, sondern auch ein Prädiktor für Heimeintritte ist und sogar die Sterblichkeit erhöht.1-3 Zudem sind einsame Personen weniger körperlich aktiv.4 Daher ist es auch nicht überraschend, dass die Expertinnen und Experten den einsamen Personen viel «Sport ausser Haus» verschrieben.

Auch unabhängig von Einsamkeit wurde von den Expertinnen und Experten bei fast allen Falltypen ein Bedarf an Sport (ausser Haus oder zu Hause) gesehen. Dies macht insofern Sinn, als dass Sport älteren Personen in vielerlei Hinsicht hilft, unabhängig zu bleiben: es schützt sie vor Stürzen, vor Gebrechlichkeit und kann damit Heimeintritte vermeiden.5-7

Es würde sich also in vielerlei Hinsicht (und wohl auch mit Blick auf die Kosten) lohnen, den sozialen Austausch und die Bewegung bei älteren Menschen zu fördern.

Schätzung der Kosten einer bedarfsgerechten Betreuung zu Hause

Die von uns geschätzten Kosten für eine bedarfsgerechte Betreuung aller zu Hause lebender Seniorinnen und Senioren in der Schweiz liegen zwischen 349 und 466 Mio. CHF pro Monat. Dies entspricht Betreuungskosten von schätzungsweise 4.2 – 5.6 Mia. CHF pro Jahr. Die Berechnung der Kosten basiert dabei einerseits auf den Marktpreisen für Betreuungsleistungen (unterer Schätzwert) und andererseits auf den Vollkosten, welche bei den kantonalen Pro Senectute-Organisationen anfallen (oberer Schätzwert). Unsere Studie macht keine Aussagen darüber, von wem diese Kosten – falls sie denn in Anspruch genommen werden sollten – finanziert werden müssten.

Die mit Hilfe der SHARE-Daten hochgerechneten und in Bezug auf die Anzahl Alleinlebender und Nichtalleinlebender re-kalibrierten Kosten zeigen, dass die vier häufigsten Betreuungsleistungen («Soziale Aktivität», «Sport ausser Haus», «Haushaltshilfe» und «Besuchs- und Begleitdienst») zusammen 60-70% der Kosten ausmachen (siehe Abbildung 3).

Abbildung 3: Gesamtkosten für die Betreuung zu Hause nach Leistung in Mio. CHF pro Monat.

Die höchsten Kosten fallen für Personen an, die sich einsam fühlen, aber sonst keinerlei körperliche oder kognitive Einschränkungen aufweisen. Laut unseren Schätzungen sind sie aufgrund ihrer hohen Anzahl für 31% der gesamten bedarfsgerechten Betreuungskosten in der Schweiz verantwortlich (insgesamt 108 – 145 Mio. CHF pro Monat), obschon die Kosten pro Person nicht sehr hoch ausfallen (502 – 727 CHF / Monat für Nichtalleinlebende und 825 – 1’055 CHF / Monat für Alleinlebende). Auf der anderen Seite sind Personen mit sehr vielfältigsten Einschränkungen im Einzelfall um ein Vielfaches teurer (teuerste 3 Fälle: 2’034 – 2’594 CHF / Monat für Nichtalleinlebende und 1’691 – 2’636 CHF / Monat für Alleinlebende). Weil in der Schweiz aber nur ungefähr 5% der Personen so vielfältige Betreuungsbedürfnisse aufweisen, sind sie zusammen nur für ca. 18% der gesamten Kosten verantwortlich (insgesamt 65 – 84 Mio. CHF pro Monat).

Im Vergleich zu den durchschnittlichen Betreuungskosten im Alters- und Pflegeheim von schweizweit zwischen 859 CHF / Monat (tiefste Pflegebedarfsstufe) und 1’117 CHF / Monat (höchste Pflegebedarfsstufe)8 sind die von uns geschätzten Kosten für Betreuung zu Hause in einzelnen Fällen höher. Es ist allerdings anzunehmen, dass bei einer Betrachtung der Gesamtkosten (Pflege, Betreuung, Hotellerie und sonstige Ausgaben) die Ausgaben für die meisten von uns untersuchten Fälle zu Hause trotzdem tiefer ausfallen würden als jene im Alters- und Pflegeheim.9 Um diesbezüglich eine definitive Aussage machen zu können, müssten jedoch im Rahmen einer Folgestudie die durch eine bedarfsgerechte Betreuung verursachten Gesamtkosten in den unterschiedlichen Settings (zu Hause, Betreutes Wohnen und Alters- und Pflegeheim) miteinander verglichen werden.

Unsere Schätzungen sind mit einiger Unsicherheit behaftet. Zum einen basiert die Bedarfsschätzung auf einer relativ kleinen Stichprobe von ca. 1’800 Beobachtungen (SHARE). Zum anderen wurde der Bedarf von 25 Expertinnen und Experten eingeschätzt. Ein Einfluss von Einzelmeinungen auf die Resultate kann also nicht ausgeschlossen werden. Schliesslich führten Datenlücken zu grossen Unsicherheiten in den Kostenberechnungen. Mussten Annahmen getroffen werden, verwendeten wir jeweils möglichst konservative Annahmen, was tendenziell zu einer Unterschätzung des tatsächlichen Bedarfs und der tatsächlichen Kosten führte.

Weitere Informationen zur Studie wie z.B. umfangreichere Informationen zu den Methoden finden Sie im Schlussbericht, der schon bald auf unserer Internetseite veröffentlicht werden wird.

Flurina Meier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Stv. Leitung der Fachstelle Versorgungsforschung am WIG.

Beatrice Brunner ist Leitung (Co-Leitung) Fachstelle Gesundheitsökonomische Forschung.

Quellen:

  1. Hanratty, B., Stow, D., Collingridge Moore, D., Valtorta, N. K., & Matthews, F. (2018). Loneliness as a risk factor for care home admission in the English Longitudinal Study of Ageing. Age and Ageing, 47(6), 896–900. https://doi.org/10.1093/ageing/afy095
  2. Holt-Lunstad, J., Smith, T. B., Baker, M., Harris, T., & Stephenson, D. (2015). Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality: A Meta-Analytic Review. Perspectives on Psychological Science, 10(2), 227–237. https://doi.org/10.1177/1745691614568352
  3. Valtorta, N. K., Moore, D. C., Barron, L., Stow, D., & Hanratty, B. (2018). Older Adults’ Social Relationships and Health Care Utilization: A Systematic Review. American Journal of Public Health, 108(4), e1–e10. https://doi.org/10.2105/AJPH.2017.304256
  4. Hawkley, L. C., Thisted, R. A., & Cacioppo, J. T. (2009). Loneliness predicts reduced physical activity: Cross-sectional & longitudinal analyses. Health Psychology, 28(3), 354–363. https://doi.org/10.1037/a0014400
  5. Gill, T. M., Baker, D. I., Gottschalk, M., Peduzzi, P. N., Allore, H., & Byers, A. (2002). A Program to Prevent Functional Decline in Physically Frail, Elderly Persons Who Live at Home. New England Journal of Medicine, 347(14), 1068–1074. https://doi.org/10.1056/NEJMoa020423
  6. Kojima, G. (2018, März). Frailty as a Predictor of Nursing Home Placement Among Community-Dwelling Older Adults: A Systematic Review and Meta-analysis [Text]. https://doi.org/info:doi/10.1519/JPT.0000000000000097
  7. Thomas, E., Battaglia, G., Patti, A., Brusa, J., Leonardi, V., Palma, A., & Bellafiore, M. (2019). Physical activity programs for balance and fall prevention in elderly: A systematic review. Medicine, 98(27), e16218. https://doi.org/10.1097/MD.0000000000016218
  8. Engelberger, K., & Rubin, R. (2018). Preisvergleich Betreuungs- und Aufenthaltstaxen von Schweizer Alters- und Pflegeheimen. Preisüberwachung PUE, 32.
  9. Bannwart, L., & Künzi, K. (2018). Untersuchung zum betreuten Wohnen—Einsparpotential, Ausmass der Hilfsbedürftigkeit, Höhe des EL-Pauschalbeitrags (S. 62). Bundesamt für Sozialversicherungen Alters- und Hinterlassenenversicherung, berufliche Vorsorge und Ergänzungsleistungen.

1 Kommentar

  • Die Diskussion über die Kosten für eine bedarfsgerechte Betreuung älterer Menschen zu Hause gegenüber der Unterbringung in einem Pflegewohnheim ist äußerst relevant. Oftmals wird übersehen, dass neben den reinen Kosten auch der Wunsch des Individuums eine große Rolle spielt. Viele Menschen fühlen sich in ihrer gewohnten Umgebung wohler und können so länger ein selbstbestimmtes Leben führen. Ein Pflegewohnheim bietet jedoch auch viele Vorteile, wie eine 24-Stunden-Betreuung und soziale Kontakte. Es ist wichtig, beide Seiten zu betrachten und eine individuelle Lösung zu finden.


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