Dem Ärztemangel mit Physiotherapie begegnen

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Von Sarah Schmelzer

Die meisten von uns kennen die folgende Geschichte aus eigener Erfahrung oder aus den Berichten von Bekannten: Beim gemütlichen Fussballspiel kommt es zum Foul, welches eine Schwellung des Knöchels mit sich bringt. Einen Tag später geht man zum Arzt, welcher einen Knochenbruch ausschliesst und einen an die Physiotherapie verweist. Dort werden die strapazierten Bänder während mehreren Therapiesitzungen wieder einsatzfähig gemacht. Möglicherweise geht es anschliessend nochmals zur Nachkontrolle zum Arzt. Als Betroffener stört mich an dieser Geschichte einerseits das Foul des Gegenspielers und andererseits die Zeit welche ich mit Terminvereinbarungen, Informationsübermittlung und in Wartezimmern verbringe. Wieso muss ich die Vor- und Nachbesprechung mit einer Fachperson führen, welche nicht die Behandlung durchführt?

Lösung für ein Patientenbedürfnis

Für die obengenannten Bedürfnisse des Hobbyfussballers hat möglicherweise das Institut für Physiotherapie am Kantonsspital Winterthur ein innovatives Angebot. Seit Juni 2018 läuft das Projekt «Perioperatives Management in der Orthopädie durch die Physiotherapie», kurz PMOP. Im Rahmen von orthopädischen Eingriffen findet eine Übertragung von ärztlichen Sprechstunden auf Physiotherapeuten statt. Dafür wurden folgende zwei orthopädische Eingriffe ausgewählt: die Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes im Kniegelenk sowie die Refixation einer Rotatorenmanschettenläsion im Schultergelenk. Innerhalb dieser beiden Eingriffe übernehmen also neuerdings Physiotherapeuten die Sprechstunden vor und nach der Operation. Doch was bringt das? Für unseren Hobbyfussballer gibt es im Behandlungsprozess eine zentrale Ansprechperson. Dadurch können Wünsche und Bedürfnisse welche über den operativen Eingriff hinausgehen, zentral an den Physiotherapeuten gerichtet werden, welcher diese wiederum in den Behandlungsplan integrieren kann. Zusammengefasst wird dem Patienten mehr Kontinuität und ein niederschwelliger Zugang zum Gesundheitssystem ermöglicht.

Mehrwert für Ärzte und Physiotherapeuten schaffen

Doch verspricht dieses Modell vor allem einen Zusatznutzen für unseren Hobbyfussballer und die Bedürfnisse der Ärzte und Physiotherapeuten sind sekundär? Nein – ganz im Gegenteil. Einerseits bietet das PMOP-Modell den Ärzten die Möglichkeit sich stärker auf ihre Kerntätigkeiten zu fokussieren. In diesem Fall bedeutet dies, dass die Orthopäden mehr Zeit für chirurgische Eingriffe zur Verfügung haben. Dies soll besonders den Assistenzärzten zugutekommen, welche wichtige Praxisstunden im Operationssaal sammeln können. Andererseits stellen die neu übernommenen Aufgabenbereiche für die Physiotherapeuten eine Bereicherung ihrer bisherigen Tätigkeitsfelder dar (engl. Job Enrichment). Durch die Ausweitung der Kompetenzen des Physiotherapeuten soll das Berufsbild gestärkt und attraktiver gemacht werden, was sich langfristig in einem längeren Verbleib im Beruf widerspiegelt.

Evaluation im Rahmen des BAG-Förderprogramms Interprofessionalität

Die Übergabe des Aufgabenbereiches «Sprechstunde» vom ärztlichen Personal an die Physiotherapeuten wird in der Fachsprache als Task Shifting bezeichnet. Die obenstehenden Formulierungen legen nahe, dass das Task Shifting sowohl für den Hobbyfussballer, den Arzt als auch den Physiotherapeuten ein optimales Modell darstellt, welches alle Wünsche erfüllt. Ob dies effektiv der Fall ist, ist bis dato jedoch noch unklar.
Deshalb wird unter anderem das PMOP-Modell durch das Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie im Rahmen des BAG-Mandates 14 «Task Shifting» evaluiert. Das zu erarbeitende Evaluationskonzept umfasst Kennzahlen im Bereich Ökonomie und Versorgungsforschung. Neben dem PMOP-Projekt werden zudem zwei weitere Modelle evaluiert: Einerseits das Berufsbild des Klinischen Fachspezialisten am Kantonsspital Winterthur und andererseits die Indikationenliste im Rahmen der Revision des Heilmittelgesetzes.

Aktuell erarbeitet das WIG in enger Absprache mit den Praxisinstitutionen das Evaluationkonzept. Basierend auf den Ergebnissen erhofft sich das WIG, die bestehenden Annahmen mit Evidenz belegen zu können.

Weitere Informationen zum laufenden BAG-Projekt finden sich hier. Zudem wird über die Ergebnisse laufend auf diesem Blog berichtet.

Sarah Schmelzer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team Management im Gesundheitswesen am WIG

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