«Koordinierte Versorgung im Gesundheitswesen revisited»

Von PD Dr. Florian Liberatore

Effizienzreserven im System erschliessen, Patienten eine optimale, reibungslose Versorgung bieten. Die gesellschaftspolitische aber auch wissenschaftliche Diskussion um koordinierte Versorgungsformen im Schweizer Gesundheitswesen dreht sich häufig um Zielsetzungen aus Sicht des Gesundheitssystems. So die Theorie. Umgesetzt ist und wird jedoch immer noch wenig davon. Gehen wir das Thema «koordinierte Versorgung im Gesundheitswesen» daher vielleicht falsch an?

Als Berater und Wissenschaftler, der sich seit Jahren mit dem Thema aus betriebswirtschaftlicher Sicht in Forschungs- und Beratungsprojekten beschäftigt, habe ich mit der Zeit eine neue Perspektive entwickelt, die ich auch in meinem Unterricht im CAS Koordinierte Versorgung im Gesundheitswesen des WIG versuche zu vermitteln und in diesem Blog-Beitrag darlegen möchte.

Leistungserbringer wie Spitäler, Spitexorganisationen, und niedergelassene Ärzte sind vor allem Wirtschaftsunternehmen und für die Entscheider zählen die oben genannten Argumente wenig bis gar nicht, um sich in koordinierte Versorgungsformen zusammenzuschliessen. Es zählen vielmehr wirtschaftliche Argumente.

Diese Kriterien sind unternehmerisch entscheidend

Der positive Einfluss auf den Unternehmenserfolg ist also eine unmittelbare Voraussetzung für Schnittstellenkoordination. Diese betriebswirtschaftlichen Beurteilungsdimensionen spielen eine Rolle, wenn es um die Entscheidung einer stärkeren interorganisationalen Zusammenarbeit geht:

Ein Blick auf die Beurteilungsdimensionen macht schnell deutlich – je nach Ergebnis des Evaluationsprozesses kann es und muss es wirtschaftlich nicht sinnvoll sein, mit jedem Schnittstellenpartner eine verstärkte koordinierte Versorgung anzustreben.

Nicht mit jeder Arztpraxis wird das Spital eine Kooperation starten

So wird ein Spital nicht mit jeder Haus- oder Facharztpraxis die Prozesse abstimmen können. Aus unternehmerischen Überlegungen wird eine Koordination mit den wichtigsten Stakeholdern die Priorität haben. Denn eines ist klar, eine stärkere Koordination in einer Schnittstelle bedeutet einen enormen Ressourcenaufwand, der sich nicht bei jedem Partner lohnen wird.

Schnittstellenkoordination benötigt aber auch nicht immer das bewusste Commitment beider beteiligten Partner, sondern kann auch ganz einfach das Resultat des Key Account Managements eines der beiden Partner sein, der eine gute Beziehung mit seinem Key Account pflegt. Das vom Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie entwickelte KAM-Modell kann bei der Umsetzung hilfreich sein (Angerer & Liberatore 2018, S. 65ff.). Positiver Nebeneffekt der Massnahmen des Key Account Managements können dann eine verbesserte Schnittstellekoordination sein.

Organisch gewachsene Koordinationsstrukturen

Aber was ist mit der einzelnen Haus- oder Facharztpraxis? Wird sie bei der koordinierten Versorgung immer aussen vor bleiben aufgrund ihrer geringen Relevanz? Nein, in diesem Fall kann man davon ausgehen, dass aufgrund der Marktmacht des Spitals eine Einzelpraxis ihre Prozesse und Strukturen mittelfristig an das Spital anpassen muss und wird, um guten Zugang für ihre Patienten an die stationäre bzw. fachärztliche Versorgung zu erhalten. Auch dies führt mittelfristig zu einer stärkeren koordinierten Versorgung.

Diese Überlegungen machen klar: Es wird schon sehr viel umgesetzt an koordinierter Versorgung im Schweizer Gesundheitswesen. Dabei handelt es sich aber um das Ergebnis unternehmerischer Entscheidungen von einzelnen oder mehreren Playern im Gesundheitswesen und weniger um das Resultat eines gesundheitspolitisch erwünschten Prozesses hin zu mehr koordinierte Versorgung. Lohnt es sich wirtschaftlich enger zusammenzuarbeiten, wird dies auch früher oder später aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen umgesetzt. Das wird passieren ganz ohne gezielte Fördermassnahmen für die Entwicklung koordinierter Versorgungsformen.

Mal wieder lernen von der Automobilindustrie

Aber wird irgendwann die Optimierung der einzelnen Schnittstellen abgeschlossen sein? Nein, das Beispiel aus anderen Branchen, wie der Automobilindustrie zeigt, dass es zu einem noch höheren Grad an Koordination kommen kann, ohne das regulatorisch nachgeholfen werden muss. Zulieferer und Hersteller sind in diesem Sektor nicht nur informationstechnisch eng miteinander verknüpft, sondern entwickeln und betreiben gemeinsame Supply Chains, neue Fahrzeugmodelle und Mobilitätskonzepten der Zukunft. Dies beruht auf wirtschaftlichen Entscheidungen beider Seiten. Im Gesundheitswesen ist man zwar von solchen Kooperationslösungen weit entfernt. Erste Schritte dieser Art zeigen sich aber bereits zum Beispiel in Form von Einkaufsgemeinschaften oder der Prozessintegration von Medtech-Lösungen in der stationären Leistungserbringung.

Gesundheitspolitik darf die Rahmenbedingungen setzen

Und die Gesundheitspolitik wird zum Zuschauer? Nein, die Gesundheitspolitik kann die anfangs genannten und durchaus berechtigten Ziele dennoch vorantreiben. Jedoch weniger durch direkte Weisungen und Fördermassnahmen zu mehr koordinierter Versorgung, sondern durch Tarifsysteme, die Anreize zu mehr Zusammenarbeit geben, ohne dass jedoch das «wie» und «wer mit wem» vorgegeben wird. Hier sollte die unternehmerische Freiheit gewahrt bleiben, um zu den besten Lösungen der koordinierten Versorgung im Gesundheitssystem zu kommen.

Sie möchten mehr zu diesem Thema erfahren: Besuchen Sie unseren CAS Koordinierte Versorgung im Gesundheitswesen oder besorgen Sie sich unser Lehrbuch Management im Gesundheitswesen: Die Schweiz.

PD Dr. Florian Liberatore ist Dozent und Projektleiter der Fachstelle Management im Gesundheitswesen am WIG.

Literaturverzeichnis:

Angerer, A. & Liberatore, F. (2018): Management im Gesundheitswesen: Die Schweiz, Berlin: MWV.

 

Schlagwörter: Florian Liberatore

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert