Zwischen Vorfreude und Verunsicherung

Der Beginn einer Geburt kann ein ungeahntes Spektrum an Emotionen auslösen: Neben körperlichen Symptomen erleben viele Frauen äusserst ambivalente Gefühle. Damit Hebammen auf diese Phase künftig besser reagieren können, entwickeln ZHAW-Forscherinnen ein Beratungstool.

von Carole Scheidegger

Dieses Ziehen im Bauch. Daran erinnert sich Daniela genau. Sie sass mit ihrem Mann zu Hause beim Nachtessen, als es begann. Waren das nun schon Wehen? Es fühlte sich eher an wie Menstruationskrämpfe. Daniela war verunsichert: Sollte sie im Spital anrufen? Oder war das übereilt? Die Hebamme hatte im Geburtsvorbereitungskurs ja durchblicken lassen, dass viele Frauen bei Geburtsbeginn zu früh ins Spital gehen wollen.

Die Schmerzen nahmen zu und Daniela wurde immer unruhiger. Irgendwann griff sie doch zum Hörer. Wie Daniela geht es vielen Frauen: Die erste Zeit der Geburt, in der Fachsprache Latenzphase genannt, verunsichert sie. «Auch für Hebammen ist es eine Phase, die nicht leicht zu handhaben ist», sagt Susanne Grylka, Leiterin der Forschung am Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit. «Am Telefon finden sie es schwierig, zu einer guten Einschätzung zu kommen.» Dem will Susanne Grylka mit ihrem Team entgegenwirken. Mit der GebstartStudie entwickeln die Forscher:innen ein Instrument, das es Gesundheitsfachpersonen erleichtern soll, die individuellen Bedürfnisse einer Frau in der Latenzphase einzuschätzen (siehe Kasten). «Bis anhin wurde bei den Kontakten mit den Frauen oft auf die körperlichen Symptome fokussiert. Dabei ist es für eine Gesamtbeurteilung wichtig, auch die emotionale Situation zu erfragen», sagt Antonia Müller, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit.

Gefühle ernst nehmen

Susanne Grylka und Antonia Müller haben im Zuge ihres Forschungsprojekts rund 90 wissenschaftliche Artikel zum Thema Latenzphase analysiert. Viele thematisieren die Emotionen gar nicht. Und jene, die es tun, könnten kaum widersprüchlicher sein: Genannt werden Angst, Unruhe und Sorgen, aber auch Aufregung, Freude und Glück – insgesamt eine breite Gefühlspalette. «Die Praxis bezweifelt manchmal, dass auch positive Gefühle dabei sein können», sagt Susanne Grylka. «Unsere Fokusgruppen-Gespräche lassen aber darauf schliessen.» Eine Frau könne in dieser Zeit ambivalente Emotionen spüren. «Wichtig ist, dass wir diese Gefühle ernst nehmen. Damit fördern wir auch die Selbstbestimmung der Frauen.»

Grundsätzlich ist dem medizinischen Personal daran gelegen, dass Frauen bei Geburtsbeginn möglichst spät ins Spital eintreten. Denn Studien zeigen, dass bei zu frühem Eintritt ein erhöhtes Risiko für eine Interventionskaskade besteht, die wiederum zu einem schlechten Zustand von Mutter oder Kind nach der Geburt führen kann. Zu solchen Interventionen zählen vaginale Untersuchungen, der Einsatz von Saugglocken oder gar ein Kaiserschnitt. «Aber es gibt keine Einheitslösung in Bezug auf den Zeitpunkt des Spitaleintritts», betont Susanne Grylka. Für den Grossteil der Frauen scheine es passend zu sein, möglichst lange zu Hause zu bleiben. Für einen kleineren Teil sei dieses Zuwarten hingegen sehr unpassend. «Eine Studienteilnehmerin hat uns berichtet, dass die 45 Minuten, die sie nach dem ersten Telefonat mit dem Spital noch zu Hause blieb, die schlimmsten der ganzen Geburt waren», sagt die Forscherin. Eine andere Frau mit einer langen Latenzphase habe erzählt, dass für sie der frühe Spitaleintritt und die Periduralanästhesie in dieser Phase die Rettung war. «Je nach Patientin machen Interventionen eben auch Sinn.»

Hemmungen abbauen

«Viele Frauen haben ein grosses Sicherheitsbedürfnis, sie wollen auf jeden Fall verhindern, dass dem Baby etwas passiert. Auch das gilt es ernst zu nehmen», sagt Antonia Müller. Sie arbeitet neben ihrem Pensum an der ZHAW gelegentlich als Hebamme auf einer Geburtenabteilung. Während der Studie erlebte sie einen wichtigen Aha-Moment. «Ich wusste zwar, dass manche Frauen Hemmungen haben, bei Geburtsbeginn im Spital anzurufen. Aber mir war nicht klar, wie gross diese Hemmungen sein können!» Um niemanden mit einem unguten Gefühl allein zu lassen, will Antonia Müller künftig mit den Frauen am Telefon genau vereinbaren, wann sie sich wieder melden sollen, sollten sie nicht sofort ins Spital kommen. «So sinkt hoffentlich die Hemmschwelle.»

Genügend Zeit für jede Klientin zu finden, ist aufgrund des Fachkräftemangels nicht immer einfach. «Deswegen aber an der Telefonzeit mit verunsicherten Frauen zu sparen, bringt nichts», sagt Susanne Grylka. «Wird eine Frau zu Beginn nicht gut beraten, steigt die Gefahr, dass sie in den späteren Phasen der Geburt viel mehr Betreuung braucht.» Angesichts der angespannten Lage im Gesundheitssystem gelte es zudem, neue Betreuungsmöglichkeiten zu finden. Eine Idee ist, dass Hebammen Frauen in der Latenzphase zu Hause besuchen. So sind die Frauen gut betreut, müssen aber noch nicht ins Spital aufgenommen werden.

Gibt es auch Gefahren, wenn das Gesundheitspersonal Emotionen stärker im Blick hat? Schliesslich hat es eine lange Tradition in der Medizin, Probleme von Frauen als Gefühlsduselei oder gar Hysterie abzutun. «Aber hier machen wir ja gerade das Gegenteil: Wir nehmen Emotionen ernst», sagt Antonia Müller. «Man weiss genug über den Zusammenhang von physischer und psychischer Gesundheit. Und wir legen den Fokus auch nicht nur auf pathologische und negative Aspekte, sondern darauf, wie positive und gesundheitsfördernde Vorgänge gestärkt werden können.» Damit jede Frau ein gutes Geburtserlebnis haben kann. //

Vitamin G. S. 17-18


Die Gebstart-Studie

Ziel der Gebstart-Studie ist, ein Tool für die Beratung von Erstgebärenden in der Latenzphase zu entwickeln und zu validieren. Es soll Hebammen bei der Beratung für oder gegen die Aufnahme
im Spital unterstützen und beim Spitaleintritt das Betreuungsbedürfnis ermitteln. Die Studie startete
im Mai 2021 und läuft über drei Jahre. Nach einer breiten Literaturrecherche führten Susanne
Grylka und Antonia Müller Interviews mit 18 Frauen, die kürzlich geboren hatten. Daraus entwickelten die Forscherinnen 99 Fragen, die wiederum zu einem Katalog mit 32 Fragen verdichtet wurden. Dieser Fragebogen wird derzeit in sechs Spitälern getestet und soll dabei bei gut 400 Gebärenden eingesetzt werden. Danach wird der Fragebogen nochmals reduziert: Ziel ist, ein Tool mit 15 bis 20 Fragen zu körperlichen und emotionalen Aspekten zu entwickeln, mit dem Hebammen künftig besser abschätzen können, wann eine gebärende Frau ins Spital eintreten sollte. Die Gebstart-Studie wird vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert.


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