Am Lebensende möglichst viel Lebensqualität: Das ist kein Widerspruch, sondern Kern der Palliative Care. Sie ist eine der anspruchsvollsten Tätigkeiten im Spital und erfordert konsequente Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen. Denn wie Menschen aus dem Leben scheiden, ist so bedeutungsvoll wie der Anfang.
VON IRÈNE DIETSCHI
Herr Strebel, 46 Jahre alt, mit kleinzelligem Lungenkrebs im Endstadium und Hirnmetastasen, wird wegen stechender Schmerzen in der Palliativstation des Spitals aufgenommen. Sein Allgemeinzustand ist sehr schlecht, ihm ist oft schwindlig, die Schmerzen erreichen Spitzen bis zehn auf der Schmerzskala. Wegen der Hirnmetastasen ist sein linker Arm fast vollständig gelähmt. Die Ehefrau ist verzweifelt und vertraut sich der Pflegefachfrau an: In den letzten Wochen habe sich die Persönlichkeit ihres Ehemanns verändert. Er weigere sich, zu akzeptieren, dass er unheilbar krank sei. Beim Thema Sterben blocke er ab, und er habe ihr verboten, die drei Kinder (2, 9 und 11 Jahre alt) über seine Krankheit zu informieren. Zu den gesundheitlichen gesellen sich wirtschaftliche Probleme: Herr Strebel ist seit fünf Monaten krankgeschrieben und hat keine Taggeldversicherung. Er lehnt es ab, Sozialhilfe zu beantragen. Die Ehefrau hält die Familie mit einem Arbeitspensum von 60 Prozent knapp über Wasser, daneben macht sie den ganzen Haushalt. Sie ist am Ende ihrer Kräfte.
INTERPROFESSIONELL UND GANZHEITLICH
Dieser Patient ist, wie die Pflegewissenschaftlerin Andrea Koppitz von der ZHAW es ausdrücken würde, in «total pain» – in totalem Schmerz gefangen, körperlich wie auch emotional. Aus ihrer Erfahrung mit geriatrischer Palliative Care, zu der Koppitz forscht, weiss sie: «Einen solch allumfassenden Schmerz erträglich zu gestalten, und zwar im Sinne des Patienten wie auch der Angehörigen, ist nur interprofessionell möglich.» Eine Person allein könne das nicht leisten.
Herr Strebel heisst in Wahrheit anders, doch seine Geschichte ist authentisch. Sara Häusermann, Dozentin am Institut für Pflege, hat den Fall den Pflegestudierenden der ZHAW vorgestellt, für die im vierten Semester des Bachelorstudiengangs ein ganzes Modul zum Thema Palliative Care vorgesehen ist. Sara Häusermann brennt für Palliative Care. Denn: «So wie der Anfang des Lebens ist auch dessen Ende von grosser Bedeutung», sagt sie. Deshalb sei es nicht gleichgültig, ob und wie man Schmerzen und andere Probleme von palliativen Patientinnen und Patienten in den Griff bekomme, sondern: «Wir streben eine Punktlandung an – im Bewusstsein, dass eine vollständige Symptomkontrolle teilweise sehr schwierig zu erreichen ist.» Doch wie gelingt eine Punktlandung praktisch? Wie gestaltet sich Palliative Care im Spitalalltag? «Neben dem interprofessionellen ist der ganzheitliche Ansatz elementar», sagt Sara Häusermann, die ihre praktischen Erfahrungen im Kompetenzzentrum Palliative Care des Unispitals Zürich gesammelt hat. «Nicht nur körperliche Beschwerden werden therapiert, auch psychosoziale und spirituelle Bedürfnisse fliessen in die Behandlung ein.» Zentral sei die Lebensqualität der Patienten: Was gibt ihnen Kraft, Sinn und Boden im Alltag? Was stört, was quält sie? «Die Betreuung wird danach ausgerichtet, was der Patient oder die Patientin möchte – nicht nach eventuellen Behandlungszielen, die sich das Team gesetzt hat», sagt Sara Häusermann. «Die betroffene Person und ihre Familie stehen im Mittelpunkt.» Ein wichtiges Instrument dafür seien etwa die Rundtisch-Gespräche, bei denen der Patient, die Familie und das interprofessionelle Team teilnehmen.
Das ist auch bei Herrn Strebel nicht anders. Um für den vergleichsweise jungen Patienten und seine Familie in der schwierigen Situation Lösungen zu finden, ist das ganze Palliativteam gefordert. Die Pflegende ist erste Ansprechperson für sämtliche Beschwerden. «Sie erfasst durch das Clinical Assessment laufend Veränderungen beim Zustand des Patienten, leitet sie an das interprofessionelle Team weiter und managt sie teilweise selbständig», erklärt Sara Häusermann. Eine wichtige Aufgabe der Pflege sei auch die Patienten- und Angehörigenedukation, also Information, Schulung und Beratung. Der ärztliche Dienst verordnet die nötigen Medikamente sowie Physio- und Ergotherapie. Letztere unterstützen Herrn Strebel beim Erlernen von Techniken, wie er trotz seiner Lähmung im linken Arm einen grossen Teil der Körperpflege und des Anziehens selber machen kann. Auch der Sozialdienst, die Ernährungsberaterin, die Seelsorge, der Musiktherapeut und die Psychoonkologin sind involviert. Herr Strebel möchte wenn möglich noch einmal nach Hause zurückkehren.
WIE EIN ORCHESTER
In ihren Vorlesungen vergleicht Sara Häusermann den interprofessionellen Ansatz von Palliative Care oft mit einem Orchester, das für ein optimales Klangerlebnis eine Fülle von Instrumenten braucht. Im Zentrum steht die Partitur, die gespielt wird – gemäss den Wünschen und Vorstellungen, die der Patient von Lebensqualität hat. Dass jemand dirigiert, ist nicht zwingend – nirgends im Spital sind die Hierarchien so flach wie auf der spezialisierten Station für Palliative Care –, aber zwischendurch braucht es besonders begabte Musikerinnen und Musiker, die ein Solo spielen. Sei dies die Ernährungsberaterin, wenn ein Ernährungsproblem im Vordergrund steht, seien es die Fachfrauen und -männer der Pflege, wenn besonderes pflegerisches Know-how gefragt ist.
Auch die Physiotherapie hat in der Palliative Care Bedeutung. «Physiotherapie kann am Lebensende viel dazu beitragen, das Körpergefühl der Patienten zu verbessern», sagt Brigitte Fiechter, die an der ZHAW unterrichtet. Durch aktive und passive Bewegungen, eine optimale Lagerung oder Weichteiltechniken ist es möglich, Wohlbefinden zu erzeugen, muskuläre Spannungen abzubauen und die Selbständigkeit des Patienten zu verbessern. Vielen Patienten ist es beispielsweise wichtig, dass sie den Gang zur Toilette allein bewältigen oder eine Mahlzeit selbständig einnehmen. Wie können sie die Kraft im Arm aufbringen, um die Gabel zu halten? Wie bewegen sie die Beine am besten, um aus dem Bett zu kommen? Bei solchen Hürden hilft die Physiotherapeutin. «Absprachen mit dem übrigen Team sind dabei wichtig», erklärt Brigitte Fiechter. «Wird zum Beispiel das Mittagessen um halb zwölf serviert, mobilisiert die Physio idealerweise um elf Uhr, damit der Patient normal am Tisch essen kann.»
Manchmal sieht sich die Physiotherapie auch in der Rolle der Solistin. Das wird anhand einer Patientengeschichte deutlich, die Brigitte Fiechter in einem Buchbeitrag zur Rolle der Physiotherapie in der Palliative Care beschreibt: Herr F., unheilbar krebskrank und kaum in der Lage, aufzustehen, möchte noch einmal seine Frau besuchen, die ihrerseits in einem Pflegeheim lebt. Sein Wunsch ist es, gut gekleidet vor ihr zu stehen und ihr einen Blumenstrauss zu überreichen. Das Unterfangen wird akribisch vorbereitet: Der Physiotherapeut erstellt einen Plan, um die Bein- und Rumpfkraft des Patienten zu trainieren. Dazu gehören Atem-, Gleichgewichts- und Wahrnehmungsübungen, damit Herr F. die Reise meistern und für ein paar Minuten vom Rollstuhl aufstehen kann. Ebenso müssen die Angehörigen instruiert werden, um den Transfer von Herrn F. in den Rollstuhl, ins Auto und wieder zurück zu gewährleisten. Es gelingt: Stehend überreicht er seiner Frau noch einmal Blumen. Er ist glücklich und strahlt. Wenige Tage darauf verstirbt er im Spital.
SITUATIVE ACHTSAMKEIT
Um solche Teamleistungen zu ermöglichen, ist mehr als Organisationstalent gefragt: Wer in der spezialisierten Palliative Care tätig ist, muss sich mit seiner ganzen Persönlichkeit darauf einlassen. Nur Gelerntes anzuwenden, taugt nicht. Es gilt, authentisch zu sein. «Vernunft, Gefühl und Intuition müssen gut ineinandergreifen», erklärt Sara Häusermann. «Ich sehe das wie eine Linie, die vom Kopf übers Herz in den Bauch reicht: Dieser Kanal muss offen sein, wie ein Flow, der mir sagt, ob ich richtig handle. Wann lege ich jemandem die Hand auf die Schulter? Wann nicht? Wann setze ich mich einfach ans Bett?» Die Fähigkeit, in solchen Situationen das Richtige zu tun, lasse sich zwar theoretisch vermitteln, aber: «Es ist immer der Moment, der entscheidet», sagt Sara Häusermann, «diese situative Achtsamkeit.»
Diese birgt allerdings eine gewisse Burnout-Gefahr. «Compassion fatigue», das Ausbrennen vor lauter Mitgefühl, kennen auch Mitarbeitende von Palliativstationen. Das Unispital Zürich versucht mit einer sorgfältigen Teamkultur dagegen anzugehen: etwa mit Teamsitzungen sowie regelmässigen Inter- und Supervisionen. Daneben werden auch Feste und Ausflüge organisiert, freitags gibt es für die Mitarbeitenden einen rituellen Nachmittagskaffee. Jede und jeder hat zudem eigene Strategien für den Ausgleich. «Bei mir sind es Gespräche, das Tanzen und die Bewegung in der freien Natur, die mir die nötige Distanz ermöglichen», erzählt Sara Häusermann. Auch Humor sei eine wichtige Ressource, nicht nur im Team, sondern auch bei den Patienten.
Herr Strebel konnte mit Hilfe der Spitex und der Organisation OnkoPlus tatsächlich noch einige Woche zu Hause verbringen. «Schön war, dass er nach intensiven Gesprächen bereit war, Unterstützung anzunehmen», erzählt Sara Häusermann. Sechs Wochen später, nachdem sich sein Zustand wieder verschlechtert hatte, trat er erneut in die spezialisierte Station für Palliative Care des Unispitals ein. Dort verstarb er friedlich. Sara Häusermann: «Die Wochen zu Hause waren für ihn und seine Familie entscheidend gewesen, um Abschied zu nehmen.» Möglich war dies nur dank der guten Zusammenarbeit des interprofessionellen Teams. //
WEITERE INFORMATIONEN
- BAG-Broschüre: «Das interprofessionelle Team in der Palliative Care»
- Publikation: «Was wir noch tun können: Rehabilitation am Lebensende»
- Informationen zur Nationalen Strategie Palliative Care
- Sara Häusermann, Dozentin für Pflege, ZHAW Gesundheit
- Brigitte Fiechter, Dozentin für Physiotherapie, ZHAW Gesundheit