Freude, Frust, Scham, Mitgefühl, Glück: Gesundheitsfachleute erleben mit ihren Patient:innen und Klient:innen sehr persönliche, aber auch herausfordernde Momente. Fünf Health Professionals erzählen, welche Emotionen sie im Berufsalltag begleiten und wie sie mit aufwühlenden Erlebnissen umgehen.
Nathalie Zwickl (37) Physiotherapeutin
arbeitet im neurologischen Bereich in einer ambulanten Physiotherapiepraxis. Dort betreut sie eine grosse Bandbreite von neurologischen Fällen – von schwer Betroffenen, wie zum Beispiel Tetraplegiker:innen, bis zu Patient:innen, die für eine zeitlich begrenzte Behandlung wie Schwindel in die Praxis kommen.
«Wenn ich zu Beginn der Physiotherapie die Schicksale meiner Patient:innen erfahre, macht mich das schon sehr betroffen. Zum Beispiel, wenn ein junger Mensch wegen eines Tumors querschnittgelähmt ist. Aber in der Therapie kann ich den Patient:innen ja zeigen, was sie tun können, damit es ihnen in ihrer Situation gut oder gar besser geht. Und wenn sie dann sagen: Hey, ich fühle mich besser als das letzte Mal, die Therapie hat geholfen – dann ist das jedes Mal ein kleines Erfolgserlebnis. Aber natürlich hadern manche Patient:innen mit ihrem Schicksal und lassen ihren Frust auch an mir aus, was ich nicht fair finde. Inzwischen habe ich jedoch gute Bewältigungsstrategien entwickelt: Patient:innen dürfen Frustration bei mir abladen – aber ich bin kein Punchingball. Ich bleibe höflich, werde jedoch sehr bestimmt. Meistens merken die Leute dann schnell, dass sie zu weit gegangen sind.
Ein Erlebnis, das mich aufgewühlt hat? Ich habe karitativ in Äthiopien als Physiotherapeutin gearbeitet und einmal kam ein Junge zu mir, etwa 13 Jahre alt, der nach einem Stromschlag nicht mehr gehen konnte. Ich wusste, in einer intensiven Reha hätte er mit Hilfsmitteln wie einem Rollator sehr wahrscheinlich wieder laufen lernen können. Doch ich wusste auch, dass ich nicht lange genug bleiben würde und dass vor Ort niemand daran interessiert war, die Therapie weiterzuführen. Ich entschied mich also, dem Jungen nicht zu zeigen, wie er laufen lernen kann, damit ich ihn nicht noch mehr frustriere. Das war eine der härtesten Entscheidungen, die ich in meinem Beruf bisher treffen musste.» //
Milena Bruschini (26) Pflegefachfrau
hat unter anderem in der Reha und in der Akutpflege gearbeitet und berufsbegleitend den Bachelor und Master of Science absolviert. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ZHAW.
«Wenn wir über Emotionen im Berufsalltag sprechen, sollten wir auch über sexuelle Belästigung sprechen. Denn Pflegefachpersonen erleben diese immer wieder. Ich habe mich mit dem Thema sexuelle Belästigung durch Patient:innen deshalb auch in meiner Masterarbeit befasst. Mein Fazit ist: Sexuelle Belästigung kann jeden treffen, unabhängig von Geschlecht, Alter und Arbeitsort. Bei vielen Pflegefachpersonen kommt sie fast täglich oder wöchentlich vor, je nachdem wo sie arbeiten.
Was mich während meiner Zeit in der Praxis am meisten frustriert hat? Dass mir gerade von Seiten älterer Pflegefachleute der Eindruck vermittelt wurde, solche Vorfälle würden zum Pflegeberuf dazugehören. Wir sind Pflegefachpersonen und deshalb müssen wir mit solchen Situationen umgehen können. Ich selbst hatte dann häufig das Gefühl, ich darf mich nicht wehren, weil die anzüglichen Sprüche oder unangebrachten Berührungen ja vielleicht damit zu tun hatten, dass die Patient:innen dement oder in einem psychischen Ausnahmezustand waren. Sie konnten also nichts dafür. Trotzdem haben mich solche Übergriffe natürlich getroffen.
Wenn wir von Patient:innen belästigt wurden, die es kognitiv verstehen konnten, habe ich erlebt, dass Ärzt:innen gerufen wurden, um klarzustellen, dass dieses Verhalten nicht geduldet wird. Wir von der Pflegefront haben es so gut wie nie getan. Wieso, ist für mich schwer zu sagen. Ich denke, durch die Art und Weise, wie wir in der Pflege sozialisiert werden, trauen wir uns nicht, hinzustehen und uns zu wehren. Auch weil wir vielleicht befürchten, dass wir damit uns selbst oder den Patient:innen schaden könnten.
Diese Einstellung geht sogar so weit, dass ich mich gegen sexuelle Belästigung auch dann nicht wehren konnte, als ich mich mit dem Thema für meine Masterarbeit auseinandergesetzt habe und wusste, dass sexuelle Belästigung im Pflegealltag ein No-Go ist. Einmal war ich bei zwei älteren Herren im Zimmer, als der eine sein Wasserglas umgeworfen hat. Während ich den Boden mit Tüchern trocknete, sagte der eine zum anderen: Das wäre mal was, wenn die dich so schrubben würde, wie die jetzt den Boden schrubbt. Der andere entgegnete: Die steht bestimmt auf viel Jüngere, die will nicht so alte Säcke wie uns. Ich habe den Boden fertig gewischt, bin aufgestanden – und als wäre nichts geschehen aus dem Zimmer gegangen. Ich weiss nicht, worüber ich mehr verärgert war: Dass mir diese Situation passiert ist. Oder dass ich nichts gesagt habe. Aber es ging einfach nicht.
Jede Person definiert sexuelle Belästigung bis zu einem gewissen Grad individuell. Aber auch wenn für einen selbst eine Situation nicht so belastend ist, sollte man immer daran denken: Es könnte eine andere Pflegefachperson treffen, vielleicht auch eine Lernende, auf die das Verhalten ernsthafte Auswirkungen hat. Deswegen sollte man sexuelle Belästigung nicht einfach hinnehmen, sondern sich trauen, solche Vorfälle beim Namen zu nennen.» //
Simone Engeli (47) Ergotherapeutin
arbeitet seit 22 Jahren mit Kindern. Einerseits ist sie in einer Sonderschule angestellt, in der Kinder mit erhöhtem Förderbedarf im sozio-emotionalen Bereich unterrichtet werden. Anderseits begleitet sie als selbständige Ergotherapeutin Kinder mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen, die in der Regelschule integriert sind. Daneben ist sie als Dozentin an der ZHAW und Supervisorin tätig.
«In meinen 22 Jahren als Kinder-Ergotherapeutin habe ich vieles erlebt, so schnell bringt mich nichts mehr aus der Fassung. Das bedeutet aber nicht, dass mir gewisse Situationen nicht nahegehen. Natürlich bin ich betroffen, wenn ich sehe, dass Familien in einer sehr schwierigen Lage sind oder bereits viele Schicksalsschläge erleiden mussten. In emotional anspruchsvollen Situationen begegnen wir in der Berufspraxis häufig dem Satz: Da muss man sich abgrenzen. Ich stelle dies in Frage. Wir sind Menschen und wir arbeiten mit Menschen und natürlich berühren mich Situationen, und ich glaube, meine Aufgabe ist es, mit diesen Emotionen umzugehen – und sie dann wieder loszulassen. Dabei hilft mir Bewegung, beispielsweise ein Spaziergang oder die Fahrt zur Arbeit mit dem Velo. Da kann ich einiges Revue passieren lassen und überdenken.
Das Schöne an der Arbeit mit Kindern ist, dass sie ihre Gefühle ganz direkt zeigen. Ich begleite viele, die Mühe haben, ihre Emotionen zu regulieren. Teilweise kommt es im Schulalltag zu sehr heftigen Reaktionen und es gelingt den Kindern schlecht, sich wieder zu beruhigen. Mit Humor und verschiedenen Techniken helfe ich ihnen, wieder zur Ruhe zu kommen. Zum Beispiel, indem ich Verständnis für ihre Gefühlslage zeige und sie etwas Entspannendes tun lasse. Mit Kindern, die sich nonkonform verhalten, kann ich gut umgehen. Hingegen halte ich es fast nicht aus, wenn Lehrpersonen oder andere Erwachsene anspruchsvolle Kinder abwerten oder sie vor der Gruppe blossstellen. Dennoch liebe ich meinen Beruf. Es fasziniert mich immer wieder aufs Neue, wie Kinder die Dinge verstehen und wie kreativ sie mit den verschiedensten Situationen umgehen.» //
Katherina Albert (45) Hebamme
arbeitet zu 80 Prozent an der ZHAW als Dozentin und Modulverantwortliche im Bereich Weiterbildung, zu 20 Prozent ist sie als freiberufliche Hebamme in einem Bündner Dorf tätig. Dort betreut sie hauptsächlich die frischgebackenen Eltern mit ihren Babys im Wochenbett.
«Als Hebamme zu arbeiten ist schon sehr emotional, zum Glück meistens im positiven Sinn. Es sind sehr intime Situationen, die ich mit den Familien teile, oftmals sind es jene Tage oder Wochen in ihrem Leben, die sie nie vergessen werden. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass ich als Familienmitglied auf Zeit adoptiert werde, was natürlich sehr schön ist. Wenn dann ein Kind im Wochenbett plötzlich an einer Infektion stirbt, wie ich es vor einigen Jahren erlebt habe, ist das schrecklich. Das ging mir damals sehr nahe.
Stress und Frust? Solche Gefühle halten sich bei mir als freiberufliche Hebamme in Grenzen. Wenn ich mich mal über etwas ärgere, dann vielleicht über eine Krankenkasse, die eine Rechnung nicht begleichen will. Aber das sind Peanuts im Vergleich zu den strukturellen Schwierigkeiten, mit denen Hebammen in Spitälern konfrontiert sind. Dort sind Fachkräfte sicherlich mehr Stress und Frust ausgesetzt, weil sie wegen der grossen personellen Engpässe oftmals nicht mehr die Qualität in ihrer Betreuung gewährleisten können, wie sie es gerne würden.
Ich gehöre zu jenen Hebammen, die gerne auch theoretisch arbeiten. Darum wollte ich neben der praktischen Arbeit mit Familien immer auch Berufskolleg:innen und Student:innen auf ihrem Bildungsweg begleiten, wie jetzt an der ZHAW. Ich finde es sehr befriedigend, wenn ich Wissen weitergeben
und meine Erfahrungen mit anderen teilen kann.» //
Christian Ingold (49) Gesundheitsförderung
ist Dozent am ZHAW-Institut für Public Health und Experte für Verhaltenssüchte. Davor war er unter anderem Leiter Prävention am Zentrum für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte der Gesundheitsstiftung RADIX.
«Emotionen haben in meinem Alltag am Zentrum für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte vor allem dann mitgespielt, wenn es darum ging, wie ich Gelder für Spielsucht-Prävention zielgerichtet einsetzen kann. Die Herausforderung dabei war, dass die staatlichen Strukturen für die Prävention viel kürzere Spiesse vorsehen als für die Anbieter von Glücksspielen. Ich musste also mit relativ wenig Wirkung zufrieden sein, weil das Geldvolumen zu klein ist im Vergleich zu dem, was man mit modernen, professionellen Interventionen präventiv alles erreichen könnte. Das hat mich aber nicht frustriert. Es hat mich eher motiviert, mit Geschick dafür zu sorgen, dass die Gelder nicht in administrativen Strukturen
hängen bleiben, sondern bei den Spieler:innen und deren Angehörigen ankommen, die Probleme haben.
Was mich erschüttert hat? Mir wurde erst während der Pandemie so richtig bewusst, was staatliche Strukturen und eine Exekutive unter Handlungsdruck alles erreichen können, wenn es hart auf hart kommt. Die Corona-Massnahmen haben mir exemplarisch aufgezeigt: Ist der politische Wille da, lässt sich hochwirksame Prävention betreiben. Dagegen sieht der Alltag von Gesundheitsförder:innen oft bescheidener aus. Deshalb finde ich es fair, dass sich unsere Studierenden im Bachelor Gesundheitsförderung und Prävention frühzeitig ein Bild darüber machen können, wie gross ihre
Einflussmöglichkeiten sind, und ob sie damit persönlich zufrieden sein werden. Wichtig scheint mir auch, zu wissen, wie man sich im motivatorischen Gleichgewicht hält, wenn es nicht wie geplant läuft. Mir persönlich tut es gut, mich mit anderen auszutauschen oder in der Natur spazieren zu gehen. Danach sieht meine Welt meist wieder etwas ausgeglichener aus.» //