Ein Kind zu gebären, ist ein Kraftakt. Frauen profitieren davon, wenn sie sich vorgängig gewisse Atemtechniken aneignen. «Diese helfen ihnen, mit der Stresssituation umzugehen», sagt Vanessa Leutenegger, freiberufliche Hebamme, Doktorandin und Dozentin am ZHAW-Institut für Hebammen.
VON EVELINE RUTZ
Sie sind angespannt, werden von Schmerzen überrollt und fühlen sich ausgeliefert. Unter der Geburt können werdende Mütter physisch und psychisch an ihre Grenzen gelangen. Gezielt zu atmen, kann ihnen helfen, den Kraftakt zu meistern. «Der Wehenschmerz geht zwar nicht weg», sagt Vanessa Leutenegger, die am Institut für Hebammen des Departements Gesundheit als Dozentin arbeitet. Mit bewusster Atmung lasse sich die Aufmerksamkeit jedoch in eine andere Richtung lenken. Die Gebärende erlebe Momente der Entspannung, erfahre Selbstwirksamkeit und schöpfe neue Energie. Das ungeborene Kind werde zudem ausreichend mit Sauerstoff versorgt.
«Atemübungen sind eine einfache und wirksame Möglichkeit, sich auf die Geburt vorzubereiten», so Leutenegger. «Sie können unabhängig vom Geburtsverlauf angewendet werden.» Die Hebamme ist überzeugt, dass es sich lohnt, sich frühzeitig damit zu befassen. «Es macht einen Unterschied, ob man übt oder nicht.» In ihrer Doktorarbeit will sie entsprechende Effekte nachweisen.
Ein Mittel der Selbsthilfe
Viele Schwangere sind unsicher, wenn sie an die bevorstehende Geburt denken. Sie befürchten, die starken Kontraktionen nicht zu ertragen und die Kontrolle zu verlieren. «Ich will ihnen etwas mitgeben, das es ihnen leichter macht, mit der Stresssituation umzugehen», sagt Vanessa Leutenegger. In ihren Geburtsvorbereitungskursen legt sie grossen Wert auf Körperarbeit. Sie vermittelt den Teilnehmenden Methoden, die bereits in der Schwangerschaft entlasten und zu einem positiven Geburtserlebnis beitragen können.
Dazu zählt unter anderem die langsame und vertiefte Ausatmung. Sie eignet sich insbesondere für die Eröffnungs- und Übergangsphase einer Geburt, wenn sich der Köper weitet. In der Austreibungsphase, wenn noch einmal viel Kraft mobilisiert werden muss, ist die Atmung oberflächlicher. «Es geht darum, während des ganzen Verlaufs bewusst zu atmen», betont die ZHAW-Mitarbeiterin. Sie hält wenig davon, für die einzelnen Phasen spezifische Empfehlungen zu machen. Stattdessen gibt sie Übungen weiter, die individuell eingesetzt werden können.
Strapazen mit Atmung aktiv begegnen
Der Atmung wird in der Geburtshilfe schon lange Beachtung geschenkt. Ab den 1940er Jahren setzte sich beispielsweise Ferdinand Lamaze für eine natürliche, schmerzarme Geburt ein. Er war überzeugt,
dass Gebärende weniger chemische Schmerzmittel benötigen, wenn sie positiv eingestellt sind und ihren Fähigkeiten vertrauen. Der französische Arzt kombinierte mentale Techniken, Atmung und Bewegung. Sein Ansatz wird bis heute gelehrt. Dies gilt ebenso für die Erkenntnisse von Dick Read, einem britischen Gynäkologen, der 1933 sein erstes Buch zu dem Thema publizierte. Er beobachtete unter anderem in Afrika, dass die psychische Verfassung einer Frau den Geburtsablauf beeinflusst – dass sich Angst und Unwissen negativ auswirken. Seine Methode fokussiert darauf, werdende Mütter zu stärken. Sie sollen zuversichtlich und informiert an die Entbindung herangehen. Und sie sollen sie nicht in erster Linie mit Schmerzen assoziieren, sondern als Arbeit verstehen, auf die sie sich vorbereiten können. Haben sie das «richtige» Atmen trainiert, können sie den Strapazen aktiv begegnen.
Wenn die Geburt stockt
Unter dem «Geburtssturm» kann das Erlernte allerdings vergessen gehen. Das ständige Zusammenziehen der Gebärmutter kann eine Frau überfordern und in Panik versetzen. Atmet sie nur noch über den Mund ein, kann es sein, dass sie zu viel Sauerstoff aufnimmt, einen Brechreiz verspürt und anfängt, zu hyperventilieren. Ihr Herz rast und ihre Muskeln verkrampfen sich, was den Schmerz verstärkt und den Geburtsprozess hemmt. Gerät eine Gebärende in diesen Teufelskreis, sollte sie ans kontrollierte Atmen erinnert werden. Im Idealfall übernimmt der Partner diese Rolle. «Er unterstützt sie, leitet sie an und erlebt dabei das Gefühl, gebraucht zu werden», sagt Vanessa Leutenegger. Kann sich ein Paar in dieser intimen Situation nicht selbst helfen, greift die Hebamme ein.
Weniger Komplikationen, tiefere Kosten
Die Atmung zu steuern, ist eine sanfte Methode der Schmerzlinderung. Sie wirkt sowohl auf der körperlichen als auch auf der psychischen Ebene. Sie mindert Ängste, Gebärende erfahren Selbstwirksamkeit: Sie merken, dass sie in der Ausnahmesituation selbst etwas tun können. Dies trägt zu einem positiven Geburtserlebnis bei. Forschende vermuten zudem, dass Frauen, die Atemtechniken beherrschen, seltener Komplikationen haben oder eine Periduralanästhesie (PDA) benötigen. Die Kosten fallen tendenziell tiefer aus.
«Das Geburtserlebnis beeinflusst die Zeit danach», gibt Vanessa Leutenegger zu bedenken. Es wirke sich nicht zuletzt auf die Bindung zum Kind aus. Dass es eine Rolle spielt, wie Frauen unter der Geburt atmen, ist breit anerkannt. Es gehört zum Berufsverständnis einer Hebamme, werdende Mütter entsprechend zu befähigen. Aussagekräftige Daten über Wirkungen und Auswirkungen sind allerdings rar. Die Wissenschaft hat lange Zeit auf medizinische Eingriffe und pharmakologische Hilfsmittel fokussiert. «Heute hinterfragt man stärker, welche Interventionen wirklich nötig sind», sagt Vanessa Leutenegger. Natürliche Alternativen haben an Bedeutung gewonnen. So etwa die Mindfulness Based Medicine, die auf das Prinzip der Achtsamkeit setzt. Hinzu kommen Methoden der Komplementärmedizin wie Akupunktur, Homöopathie und Aromatherapie.
Eine App mit Übungsvideos
Mit ihrer Doktorarbeit will Vanessa Leutenegger den Forschungsstand erweitern. Sie wird Schwangeren von ihr entwickelte Atem- und Entspannungsübungen vermitteln und messen, wie sich diese auf die Geburt und das Wochenbett auswirken. Dabei wird sie sowohl das Befinden der Frauen als auch jenes der Babys erheben. Die gewonnenen Erkenntnisse möchte die Doktorandin dereinst dazu nutzen, um eine App zu realisieren. «Sie könnte werdende Mütter mit Anleitungen, Trainingsvideos und der Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen, unterstützen.» //
ATEMÜBUNGEN ZUR GEBURTSVORBEREITUNG
Kraftvoll ausatmen:
In der Eröffnungsphase der Geburt muss der Körper weich werden. Die Frau kann dies unterstützen, indem sie mit den Wehen mitgeht. Sie atmet über die Nase ein, füllt ihre Lungen mit Luft und lässt diese über den offenen Mund wieder hinausströmen. Sie atmet kraftvoll aus und lässt ihren Schmerz hören. Sie sagt beispielsweise «aah» oder gibt andere Laute von sich. Unter der Geburt zu jammern, zu stöhnen oder zu wimmern, wirkt entlastend. Manche Frauen denken dabei ans Baby oder stellen sich eine Blüte vor, die sich öffnet. Werdende Eltern können dieses verstärkte Ausatmen vorgängig üben. Am besten gehen sie dies mit einer Prise Humor an.
Atmung und Bewegung:
Das bewusste Atmen lässt sich mit Bewegungen kombinieren. Im Sitzen streckt die schwangere Frau die Arme aus und beobachtet, was dies für ihre Atmung bedeutet, wie sie ihren Körper jetzt wahrnimmt. Nach einer gewissen Zeit wechselt sie in weitere Positionen, ins Stehen oder Liegen. Stresshormone lassen sich so in erfolgreiche Handlungen
WEITERE INFORMATIONEN:
- Atemtechniken für die Geburt auf swissmom.ch
- Richtige Atemtechnik: So halten wir Schmerzen besser aus, WDR-Sendung «Quarks»
- Schwangerenvorsorge «zäme schwanger» am Therapie- Trainings- und Beratungszentrum Thetriz
- ZHAW-Profil von Vanessa Leutenegger