Wenn Eltern zum Handy greifen

Viele Eltern nutzen ihr Smartphone auch dann, wenn das Neugeborene gerade gestillt wird oder der Einkauf mit dem Kleinkind ansteht. Welche Auswirkungen die Smartphone-Nutzung auf die Eltern-Kind-Beziehung hat, ist Schwerpunkt einer Studie der ZHAW – mit überraschenden Erkenntnissen.

von Marion Loher

Ein Vater fährt sein wenige Monate altes Kind im Kinderwagen spazieren und tippt dabei eine Nachricht in sein Smartphone. Eine Mutter drückt ihrem 3-jährigen Sohn im Restaurant ein Tablet in die Hand, damit sie sich ungestört mit ihrer Kollegin unterhalten kann. Solche oder ähnliche Situationen dürften viele von uns schon beobachtet haben. Und nicht selten ist der erste Gedanke: Das geht doch nicht, das ist doch schädlich fürs Kind. In der Forschung wird der Zusammenhang zwischen der Smartphone-Nutzung von Eltern und der Entwicklung ihrer Kinder aber noch nicht hinreichend verstanden, und es gibt keine Studien mit belastbaren Ergebnissen zu einem möglichen Kausalzusammenhang. Die vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte ZHAW-Studie «Smart Toddlers» zielt darauf ab, besser zu verstehen, wie sich die elterliche Smartphone-Nutzung auf die Eltern-Kind-Beziehung auswirkt. Unter der Leitung von Agnes von Wyl, Professorin am Psychologischen Institut, und Michael Gemperle, Forscher am Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit, wurden mit quantitativen und qualitativen Methoden Daten von 153 Müttern und 130 Vätern von Erstgeborenen erhoben, als ihre Kinder ein, zwei und drei Jahre alt waren.

Das am Departement Gesundheit angesiedelte qualitative Teilprojekt erfasste dabei eingehend die lebensweltliche Bedeutung der Smartphone-Nutzung. Dafür wurden Interviews mit 25 Müttern und 22 Vätern durchgeführt, als ihre Kinder jeweils ein und drei Jahre alt waren.

Mütterliche Schuldgefühle

Für die «Smart Toddlers»-Studie wurden zunächst Teilnehmende aus der Vorgängerstudie «Smart Start» rekrutiert. Das Forschungsteam wollte die Stichprobe um Personen erweitern, die vom vorherrschenden Profil der Vorgängerstudie – überwiegend «engagierte» Eltern mit Universitäts- oder Fachhochschulabschluss – abwichen. «Dies erwies sich jedoch schwieriger als erhofft», sagt Michael Gemperle. Trotz intensiver Bemühungen sei es ihnen nur begrenzt gelungen, Eltern aus sozioökonomisch benachteiligten und marginalisierten Gruppen für die Studienteilnahme zu gewinnen.

Anouk Joliat, Hebamme und wissenschaftliche Assistentin an der ZHAW, hat die Interviews mit den frischgebackenen Müttern geführt. Sie wollte von ihnen unter anderem wissen, in welchen Situationen sie das Smartphone wofür nutzen und wie sie dies selbst bewerten. «Als Hebamme interessierte mich insbesondere auch die Stillzeit», so Anouk Joliat. Einige Frauen sagten, dass sie das Smartphone gerade beim Stillen nicht nutzen, weil sie denken, dass es schädlich ist, und sie ihre Aufmerksamkeit dem Kind schenken wollen. Für andere hingegen ist die Stillsituation eine gute Gelegenheit, sich mit anderen Müttern auszutauschen, Informationen rund um Neugeborene aus dem Internet zu holen, die Einkaufsliste zu schreiben oder den Kontakt mit Freunden und Familie zu halten. «Manche plagt dabei jedoch das schlechte Gewissen», sagt die wissenschaftliche Assistentin. Sie hätten Schuldgefühle, weil sie ihrer Meinung nach die Aufmerksamkeit eigentlich auf das Kind richten sollten. «Dies ist Ausdruck der komplexen Erwartungen und Herausforderungen, denen Mütter heute gegenüberstehen», fügt Michael Gemperle an. Obwohl das Smartphone aus dem Alltag der meisten Menschen nicht wegzudenken  ist,   seien Mütter in ständigem Konflikt, ob es mit ihrer Rolle vereinbar ist oder nicht.

Die Diskussionen über die elterliche SmartphoneNutzung erinnern den Soziologen an frühere Debatten, als das Fernsehen in den unteren Sozialmilieus zu einem zentralen Konsumobjekt und festen Bestandteil des Familienlebens avancierte. «Analog dazu wird die Verbreitung des Smartphones von gesellschaftlichen Diskursen begleitet, die subtil eine Vernachlässigung der Kinder suggerieren», sagt Michael Gemperle. «Ein Verdacht, den insbesondere die höher Gebildeten durch ihre kulturelle Kompetenz auf Distanz halten können.» Die Forschung zeige jedoch, dass weniger der Fernsehkonsum an sich, sondern die sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen er stattfindet, die eigentlichen problematischen Aspekte darstellen.

Elterliche Ideale

Überraschend war für die beiden Forschenden die Beobachtung, dass gerade Eltern, die ihre Kinder besonders bedürfnisorientiert zu erziehen versuchen, im Umgang mit dem Smartphone eine Art Kapitulation erleben. «Oft suchen diese Eltern, erschöpft vom Alltag, eine persönliche Auszeit – was ihre SmartphoneNutzung motiviert», sagt Anouk Joliat. So wie eine Studienteilnehmerin, die trotz Müdigkeit bis spät in die Nacht Netflix schaut, oder eine andere, die ihrem Kind beim Einkaufen das Smartphone gibt, damit sie ungestört die Besorgungen machen kann. «Unsere Studie verdeutlicht auch, dass Eltern sich mit ihrer Smartphone-Nutzung auf ganz unterschiedliche Tätigkeitsbereiche beziehen können, wie das Familienleben, die berufliche Sphäre und die Freizeitgestaltung», so Michael Gemperle. Daher sei es wichtig, die Auswirkungen der Smartphone-Nutzung auf die Eltern-Kind-Beziehung im Kontext der elterlichen Aktivitäten in diesen spezifischen Bereichen zu analysieren.

«Das Elternsein kann erfüllend, aber auch stressig, monoton und einsam sein», betont Anouk Joliat. «Vor allem Mütter, die oft die Hauptlast der Haus- und Betreuungsarbeit tragen, berichten in unseren Interviews von Situationen, in denen sie trotz vorhandener sozialer und familiärer Netzwerke auf sich allein gestellt sind.» Diese soziale Isolation sei in der Schweiz aufgrund der langen Arbeitszeiten, der hohen beruflichen Mobilität, der mangelnden sozialen Infrastruktur und des dominanten traditionellen Mutterschaftsideals besonders ausgeprägt. Smartphones böten hier die Möglichkeit, sich mit anderen Eltern und sozialen Kreisen zu vernetzen. Für Michael Gemperle steht der vorherrschende Diskurs, der die SmartphoneNutzung von Müttern negativ bewertet, ihren Bedürfnissen nach Kontakt und Unterstützung entgegen. Und er belastet sie zusätzlich, wie die Interviews zeigten: «Auch dieser Befund zur Geschlechterdynamik veranschaulicht, dass Elternschaft tief in Strukturen ungleicher Verteilung materieller und symbolischer Ressourcen verwurzelt ist.» //

Vitamin G, S. 32-33

Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


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