Sie wissen, was ihre Klientel wirklich will

Die Idee mag toll sein, aber entspricht sie auch dem Kund:innenbedürfnis? Mit dem Modell Human Centered Design lernen Ergotherapie-Studierende, Klient:innen ganz genau zuzuhören und gemeinsam mit ihnen Lösungen zu entwickeln.

Andrea Söldi

Eigentlich wollten sie nur kurz in der Schweiz bleiben. Doch so wie es aussieht, werden Geflüchtete
aus der Ukraine nicht so bald in ihr Land zurückkehren können. Diese Menschen haben Ergotherapie Studierende als Zielgruppe für ihr aktuelles Projekt gewählt. «Geflüchtete brauchen nicht nur
Arbeit und Bildung, sondern ebenso soziale Kontakte und einen Ausgleich zu ihrer schwierigen Situation», sagt Studentin Alina Döbeli, deren Mutter als Sprachlehrerin für ukrainische Geflüchtete arbeitet und den Kontakt ermöglicht hat. In ihrem Schulzimmer haben die Studierenden ein improvisiertes Kaffee eingerichtet, um mit Ukrainer:innen Möglichkeiten für deren Freizeitgestaltung zu besprechen. Bei Kaffee und Kuchen stellten sie ihnen ihren Prototyp vor: eine selbst entwickelte App, auf der Vereine und Organisationen Freizeitaktivitäten in der Umgebung aufschalten können. Sie soll Geflüchteten die Teilnahme am sozialen Leben erleichtern.

Erst zuhören, dann entwerfen

Ergotherapie-Studierende starten bereits im zweiten Semester mit Projekten, die sich an eine Community ihrer Wahl richten. Dabei arbeiten sie nach dem Ansatz des Human Centered Designs (HCD). Das Modell kommt bereits an diversen anderen europäischen Hochschulen zum Einsatz und wurde an der ZHAW nach finnischem Vorbild implementiert. Kern der Idee ist ein kreativer und interaktiver Problemlösungsprozess, bei dem die Klient:innen selbst zu Expert:innen ihrer Problemlage werden und sich mit Lösungsvorschlägen einbringen. So wird vermieden, dass über ihre Köpfe hinweg Interventionen entwickelt werden, die an ihren Bedürfnissen vorbeizielen. «Unser Gehirn ist immer sehr schnell darin, Lösungen zu finden», erklärt Dozentin Angelika Echsel. «Oft treffen wir dabei aber Annahmen, statt ganz genau zuzuhören.»

Die Studierenden werden deshalb intensiv darin geschult, genau zu erfassen, was ihre Klientel wirklich braucht. Dafür treffen sie ihre Community mehrere Male, wenden verschiedene Methoden an und fragen systematisch nach, ob sie deren Bedürfnisse richtig verstanden haben. Erst in einem zweiten Schritt entwerfen sie einen Prototyp und testen, ob sie damit auf dem richtigen Weg sind. Zudem stellen sich die Gruppen ihre Projektentwürfe gegenseitig vor und geben sich Feedback.

Neue Aufgaben

Dieses sorgfältige Vorgehen sei besonders für die Arbeit in neueren Berufsfeldern wichtig, betont Angelika Echsel. Im klassischen Verständnis des Berufs wenden Ergotherapeut:innen evidenzbasierte, mehr oder weniger standardisierte Methoden an. «Das ist alles richtig und gut», stellt die Ergotherapeutin klar, die selbst in einer Praxis in Näfels arbeitet. «Doch die Gesellschaft entwickelt sich laufend weiter. Bei neuen Herausforderungen wie Long Covid, Lockdown oder Problemen im Zusammenhang mit Migration helfen Standardlösungen nicht weiter. Hier brauchen wir neue Ansätze.»

Die Gruppe um Alina Döbeli war insgesamt drei Mal in der Deutschklasse ihrer Mutter in Olten zu Besuch. Beim letzten Treffen erkannten die Studierenden im Austausch mit den potenziellen Nutzer:innen, wie die App verbessert werden müsste: «Wir haben gemerkt, dass Freizeitaktivitäten sehr altersspezifisch sind», sagt Student Claudio Cavegn. Deshalb ergänzten sie die App mit einer Altersangabe bei der Anmeldung. Zudem fügten sie Aktivitäten wie «auswärts Essen» sowie die Rubriken «Musik» und «Kreativität» hinzu.

Angehörige zusammenbringen

Eine andere Gruppe angehender Ergotherapeut:innen nimmt sich mit ihrem Projekt Menschen mit Hörbehinderung an. Dafür haben sie mit drei Betroffenen gesprochen, die sie persönlich kennen. «Ihr Hautproblem ist, dass andere oft nicht hilfreich reagieren, wenn hörbehinderte Menschen sie nicht verstehen», erzählt Studentin Sara Senn. «Sie wiederholen das Gesagte in gleicher Lautstärke, statt deutlicher zu sprechen.» Weiter haben die Studierenden erfahren, dass sich viele Menschen mit Hörbehinderung von anderen übergangen fühlen. Deshalb hat die Gruppe mit ihrer Community die Idee einer Online-Informationskampagne entwickelt.

Derweil befasst sich eine weitere Gruppe mit Angehörigen von Menschen mit Demenz. In einer Tagesstätte für Demenz-Betroffene haben sie erfahren, dass sich viele Angehörige isoliert fühlen. «Wir haben uns überlegt, wie der Austausch untereinander gefördert werden kann», sagt Studentin Simone Wettstein. Die Angehörigen äusserten den Wunsch nach einem Treffen bei Kaffee und Gipfeli, während die Menschen mit Demenz betreut werden. Als zweites Angebot möchte die Gruppe Aktivitäten organisieren, an denen Menschen mit Demenz gemeinsam mit ihren Angehörigen teilnehmen können – etwa Frühstücken, Kuchen backen oder Spiele machen.

Zum Konzept des Human Centered Designs gehört auch eine gute Zusammenarbeit im Team und mit anderen Berufsgruppen. Deshalb legt man im HCDModul grosses Gewicht auf die Entwicklung der Persönlichkeit und kommunikativer Fähigkeiten. Die Projektgruppen erhalten von den Dozierenden regelmässig Team-Coachings. Dabei werden Unstimmigkeiten angesprochen und persönliche Rückmeldungen erteilt. «Wir Dozierenden tendieren ebenfalls dazu, allzu schnell Tipps zu geben», merkt Dozentin Angelika Echsel selbstkritisch an. «Unser Ziel ist es, der Gruppe gut zuzuhören und zu erfassen, wo sie Unterstützung im Lernprozess braucht.»

Nur nicht übermütig werden

Auch die Studierenden mit den ukrainischen Geflüchteten als Community waren zu Beginn des Projekts der Versuchung erlegen, viele kreative Ideen zu entwickeln, ohne sicherzustellen, dass diese gefragt sind. So wollten sie zum Beispiel eine Tauschbörse für Kleider auf die Beine stellen. «Wir wurden ein wenig übermütig und mussten dann merken, dass wir nicht alles umsetzen können und auch nicht alles gewünscht wird», erzählt Alina Döbeli. Der Satz «kill your darlings» sei zu einem wichtigen Motto geworden. Eine weitere Herausforderung war laut Döbeli die Sprachbarriere, die den Austausch mit der Klientel erschwert hat. Es sei deshalb schwierig gewesen, das HCD-Konzept eins zu eins umzusetzen. Das Wichtigste aber sei: «Es war für die Geflüchteten essentiell, dass ihre Bedürfnisse gehört wurden.» //

Vitamin G. S.34-35

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