Geschwister von Kindern mit einer Cerebralparese gehen im Familienalltag häufig unter und müssen ihre Bedürfnisse zurückstellen. Darunter leidet auch ihre soziale Teilhabe. Das nationale Projekt «Parti-CP» will dies ändern.
von Eveline Rutz
Anna beobachtet im Zoo gerne die Tiere. Vor den Gehegen bleibt sie daher auch einmal länger stehen. Ihr Zwillingsbruder Niklas ist dagegen lieber schneller unterwegs. Er sitzt im Rollstuhl und mag es, um viele Leute zu sein und mit seiner Mutter die Anlage zu erkunden. «Wir drehen jeweils zügig unsere Runden», erzählt Sandra Krebser. So könnten beide Kinder den Ausflug geniessen.
Zusammen Zeit zu verbringen, ist für die Familie nicht immer einfach. Niklas lebt mit einer Cerebralparese (siehe Kasten). Der Zehnjährige muss rund um die Uhr betreut werden. Er wird nicht nur von seinen Eltern zu Hause und seinen Lehrer:innen in der Schule, sondern auch von Assistenzpersonen unterstützt. Für gemeinsame Freizeitaktivitäten kommen nur Ziele in Frage, die rollstuhlgängig sind. «Wir sind schon an unzähligen Spielplätzen gestrandet, die bloss Kiesbeläge hatten», sagt Sandra Krebser. Gerade grössere Ausflüge bereite sie daher vor: «Häufig schauen Anna und ich einen Ort zuerst allein an.»
Kinder mit einer Cerebralparese (CP), ihre Geschwister und Eltern sind aufgrund von Arztterminen und Therapien in ihrem Alltag weniger flexibel als andere Familien. «Sie können weniger spontan reagieren», sagt Johanna Linimayr, wissenschaftliche Assistentin am Institut für Ergotherapie. Bei einer schweren CP sind sie zudem in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Dies erschwert es, gemeinsam unterwegs zu sein und etwa Freunde ausserhalb der eigenen vier Wände zu treffen. «Dabei ist es für alle Menschen wichtig, an verschiedenen Aktivitäten teilzuhaben», erklärt die Wissenschaftlerin.
Alle Perspektiven werden berücksichtigt
Das nationale Forschungsprogramm «Parti-CP», in dessen Rahmen 16 Familien aus der deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Schweiz befragt werden, soll klären, was die Partizipation betroffener Familien limitiert und was sie fördert. «Darüber wissen wir noch viel zu wenig», sagt CoProjektleiterin Christina Schulze. Erstmals fokussiere man nicht auf Einzelpersonen, sondern beziehe alle Familienmitglieder ein.
Die ZHAW-Professorin leitet das Projekt zusammen mit Forschenden der Universität Bern, des Inselspitals Bern, der Kinder-Reha Schweiz sowie des Universitätskinderspitals Zürich. Verschiedene Stiftungen und medizinische Gesellschaften sind als Partner eingebunden. Das Projekt ist Anfang 2023 gestartet und auf vier Jahre ausgelegt. Es wird vom Schweizerischen Nationalfonds finanziell unterstützt.
Zu Hause erlebt Familie Krebser gemeinsame Momente unter anderem bei Brettspielen. Anna bewegt jeweils die Spielfiguren und löst Aufgaben, während Niklas das Würfeln übernimmt. Dank einem grossen Schaumstoff-Würfel tue er dies begeistert, erzählt Sandra Krebser. «Er langweilt sich aber schnell, wenn man ihn nicht beschäftigt.» Die Bedürfnisse und Interessen der Zwillinge gingen zunehmend auseinander, fährt die Mutter fort. Früher seien sie regelmässig spazieren oder picknicken gegangen. Anna habe dann Blätter oder verschiedene Steine gesammelt, um später damit zu basteln. «Das findet sie mittlerweile nicht mehr so spannend.»
Oft übersehen, nun im Fokus
Dass sich Brüder und Schwestern von Kindern mit einer Beeinträchtigung oft anpassen müssen, geht aus dem Literaturreview hervor, das im Rahmen von «Parti-CP» realisiert und bereits veröffentlicht wurde. Sie lernen früh, zurückzustecken, zu warten und sich selbst zu beschäftigen. Sie kümmern und sorgen sich um ihre Geschwister, übernehmen Verantwortung und versuchen, ihre Eltern zu entlasten. In ihren Aktivitäten sind sie weniger frei als Gleichaltrige aus Familien, in denen niemand mit einer Beeinträchtigung lebt. «Sie gehen vielfach unter», sagt Christina Schulze. Dabei hätten sie ein Recht, gehört zu werden.
Wie es um die soziale Teilhabe von Geschwistern von Kindern mit CP steht, wird Johanna Linimayr in ihrer Doktorarbeit aufzeigen. Sie hat dafür fünf der 16 Familien befragt. Die Familie Krebser hat sie mehrmals besucht. Anna konnte selbst bestimmen, an welchem Ort, was und wie lange sie erzählen wollte. Einmal wählte sie dafür einen Spaziergang mit dem Hund, den sie gerade hütete. Das Mädchen hat zudem alltägliche Dinge fotografiert, die ihm wichtig sind – ein Kissen in seiner Lieblingsfarbe beispielsweise. Bei der Rekrutierung haben die Projektverantwortlichen möglichst verschiedene Lebensrealitäten einbezogen. Sie sind dafür auch in die Romandie und ins Tessin gereist, weil sich regionale Unterschiede zeigen könnten und zentrale Bereiche wie Bildung oder Gesundheit kantonal organisiert sind. In urbanen Gebieten sind die Voraussetzungen anders als auf dem Land. Kulturelle Eigenheiten beeinflussen, wie Eltern und Kinder ihre Freizeit verbringen.
Hohe Belastung der Familie
Die Gespräche mit den 16 Familien werden zurzeit ausgewertet. Positiv bewerten die Wissenschaftler:innen die grosse Bandbreite an Aktivitäten, von denen Geschwisterkinder berichteten. «Wir haben den Eindruck, dass sie sehr aktiv und involviert sind», sagt Johanna Linimayr. Schwierigkeiten ergäben sich eher situativ. Je nachdem, wie viel Unterstützung da sei, würden Aktivitäten als positiv oder belastend erlebt. Geschwister bekämen mit, wie viel ihre Mütter und Väter organisieren müssten. Sie würden das hohe Stresslevel spüren und immer wieder hören: «Das schaffen wir heute nicht mehr.» Sie lernten früh, sich allein zu beschäftigen oder ihren Interessen mit anderen Bezugspersonen nachzugehen. Sie seien zudem oft nur mit einem Elternteil zusammen–gerade während Spital- oder RehaAufenthalten des Kindes mit CP.
Geschwister nähmen solche Herausforderungen unterschiedlich wahr, sagt Linimayr. «Viele Situationen sind komplex und ambivalent.» Geschwister seien sich bewusst, dass ihr Bruder oder ihre Schwester mit CP Hilfe benötige, und passten sich an. Gleichzeitig wünschten sie sich, dass ihre eigenen Bedürfnisse befriedigt würden. Eltern wiederum befinden sich in einer Zwickmühle: Sie wollen für alle ihre Kinder stärker präsent sein, ihre Ressourcen sind allerdings beschränkt.
Andere Bezugspersonen sind wichtig
Anna hat kürzlich mit einer Freundin einen Trampolinpark besucht. Mit ihrem Götti war sie im Kino, und in Familienferien kann sie meist auf ihre Grossmutter zählen. «Wir haben ein gutes soziales Umfeld», sagt Sandra Krebser. Dies erleichtere es, beiden Kindern gerecht zu werden.
Die Erkenntnisse aus dem nationalen Forschungsprojekt «Parti-CP» sollen 2027 vorliegen. Sie werden mit Empfehlungen für Gesundheitsberufe, Lehrer:innen sowie Veranstalter:innen von Freizeitangeboten verbunden sein. Aus dem Kontakt mit der Familie Krebser ist die Idee entstanden, zusätzlich Material zum Thema für Kinder bereitzustellen. Es sollen Geschichten erzählt und illustriert werden, die für die Situation von Geschwistern wie Anna sensibilisieren. Die Fünftklässlerin geht gerne mit ihrem Bruder in den Zoo. Was sie vermisst? «Zusammen Fangen oder Verstecken zu spielen.» //
Was ist Cerebralparese?
Als Cerebralparese (CP) werden Symptome bezeichnet, die auf eine Hirnfehlbildung oder -schädigung zurückzuführen sind. Die häufigste Ursache ist ein Sauerstoffmangel des Kindes vor, bei oder nach der Geburt. Laut Schätzungen leben in der Schweiz rund 3000 Kinder und Jugendliche sowie 12 000 Erwachsene mit einer CP. Sie sind in ihren motorischen Fähigkeiten teilweise stark eingeschränkt. Da auch andere Hirnareale geschädigt sein können, haben viele Betroffenen weitere gesundheitliche Probleme. Dazu zählen Epilepsie, Schmerzen und Schwierigkeiten beim Essen, Sprechen oder Lernen. Eine CP kann nicht geheilt werden. Mit verschiedenen Therapien lassen sich die Symptome aber lindern sowie Verbesserungen erreichen.
Erste Erkenntnisse aus dem Projekt «Parti-CP»
Was freut, kann auch belasten
Geschwister von Kindern mit Cerebralparese erleben ihren Alltag oft ambivalent. Sie sind sehr aktiv und involviert, müssen sich dabei allerdings häufig an die familiären Bedingungen anpassen. Dies zeigen erste Ergebnisse des Projekts «Parti-CP».
Familie: Es ist weniger Spontanität möglich und gesundheitliche Probleme können Pläne auch kurzfristig durchkreuzen. In einem solchen Umfeld lernen Geschwisterkinder früh, sich allein zu beschäftigen und zu warten. Sie spüren die hohe Belastung ihrer Eltern und helfen deshalb häufig im Haushalt oder bei der Betreuung mit. Selbst müssen Geschwisterkinder immer wieder auf ihre Eltern verzichten und sind regelmässig mit anderen Bezugspersonen unterwegs.
Schule: Geschwister von Kindern mit einer Beeinträchtigung oder einer chronischen Erkrankung haben tendenziell weniger Zeit für Hausaufgaben und fehlen zuweilen im Unterricht. Sorgen und die Verantwortung zu Hause können dazu führen, dass sie Lernschwierigkeiten entwickeln. Die Schule kann zum einen Stabilität bieten, aber auch eine zusätzliche Herausforderung darstellen. Einige Geschwister erleben Mobbing oder zeigen auffälliges Verhalten.
Freunde: Geschwister haben im Durchschnitt weniger soziale Kontakte und verabreden sich seltener als Gleichaltrige. Und sie erleben Freundschaften ambivalent: Sie geniessen das Zusammensein, ziehen sich zuweilen aber auch zurück – aus Angst vor Stigmatisierung oder negativen Reaktionen. Einige wählen Freund:innen gezielt danach aus, wie sich diese gegenüber ihrem Bruder oder ihrer Schwester mit Beeinträchtigung verhalten. Moderne Kommunikationsmittel können ihnen helfen, Kontakte zu pflegen, wenn Treffen gerade nicht möglich sind.