Die Bewegungen des Pferderückens ermöglichen Kindern mit Beeinträchtigunge ein Training der Rumpfmuskulatur. Die ZHAW ist die einzige Institution in der Schweiz, die eine Weiterbildung in Hippotherapie anbietet. Ein Augenschein auf einem Pferdehof in Winterthur.
VON ANDREA SÖLDI
Jerome kennt Minning bereits gut. Doch jetzt ist das Islandpferd frisch geschoren. Etwas erschrocken tätschelt Jerome ihm den Hals, bevor er auf die Treppe steigt und auf seinem Rücken Platz nimmt. Sogleich setzt sich Minning in Bewegung und schreitet in flottem Tempo dem Strässchen entlang Richtung Waldrand. Während das Tier von Reitpädagogin Christine Farner am Zügel geführt wird, geht Hippotherapeutin Debora Laumer neben dem Jungen her. Mit der Hand an seinem Rücken stellt sie sicher, dass er eine aufrechte Haltung einnimmt und nicht vom Pferd rutscht. So trainiert der Elfjährige seine Rumpfmuskulatur und das Gleichgewicht. Denn aufgrund der Behinderung durch Trisomie 21 fehlt es ihm an Körperspannung und Rumpfstabilität.
Auf Anweisung der Therapeutin streckt Jerome nun die Arme seitlich aus und balanciert auf dem Pferderücken, ohne sich festzuhalten. «Das schaffst du bis dort oben zum Holzhaufen», ermutigt ihn Debora Laumer. Dem Jungen gefällt die Behandlung offensichtlich. Es handelt sich um die sogenannte Hippotherapie-K®, die auf wissenschaftlichen Fakten basiert und deshalb von den Krankenkassen und der Invalidenversicherung anerkannt und bezahlt wird (siehe Box).
Balancieren, dehnen, fliegen
«Du kannst wie ein Adler fliegen und dabei Kurven machen», ruft die Therapeutin Jerome zu. Er rudert mit den Armen und späht am Waldrand nach Mäusen. Aufrecht sitzt er auf dem Pferd, während er zwischen den Händen ein Gummiband hält und dieses mit gestreckten Armen hinter den Rücken und wieder nach vorne bewegt. Plötzlich schnaubt Minning: «Brrrrr.» Jerome versucht den Tierlaut zu imitieren und macht «muuuh».
Nach einer halben Stunde kehrt die kleine Gruppe zurück zum Islandpferdehof Weiertal ob Winterthur-Wülflingen, wo Jeromes Mutter wartet. Der Junge ist müde und steigt ab. Als Dank darf er seinem Pferd ein Brötchen geben. «Drei geben», insistiert er, doch die Therapeutin lässt ihn nur eines aus dem Sack nehmen.
Jeromes Haltung hat sich verbessert
«Die Pferdetherapie ist für meinen Sohn ein Highlight», sagt die Mutter. «Er freut sich die ganze Woche darauf.» In den gut drei Jahren, in denen Jerome diese Therapieform besucht, habe sich seine Körperhaltung sichtlich verbessert. Dazu habe wohl auch die Physiotherapie beigetragen. Zudem hatte der Junge eine Zeit lang Ergotherapie und in der Logotherapie arbeitet er an der Sprachentwicklung. Die Hippotherapie fühle sich jedoch weniger schulisch an, erklärt die Mutter. «Jerome ist gerne in der Natur und es tut ihm gut, etwas Dampf abzulassen.» Während Kinder mit Trisomie 21 typischerweise eher ruhig und introvertiert sind, sei Jerome oft auch wild und laut. Zudem hätten die wöchentlichen Besuche auf dem Pferdehof sein Interesse an den Tieren geweckt. «Er ist auf die Idee gekommen, Pferdepfleger zu lernen», erzählt die Mutter. Demnächst soll Jerome einmal beim Pflegen und Säubern des Stalls mithelfen dürfen.
Auch Hippotherapeutin Debora Laumer beobachtet Fortschritte bei Jerome. «Anfangs war er häufig verkrampft und schnell müde im Rumpf.» Es sei aber nicht immer einfach, ihn zum Mitmachen zu bewegen, räumt die Therapeutin ein. Er habe einen starken eigenen Willen. Man könne ihn aber oft über Geschichten motivieren – wie etwa, einen Adler zu spielen, der nach Mäusen Ausschau hält. Gerne würde sie mit ihm auf dem Pferd auch Übungen machen, bei denen er zum Beispiel einen Ball auf einem Tablett balancieren muss. «Leider findet er das alles uncool.»
Muskeln stärkern und lockern
Laumer arbeitet als Physiotherapeutin sowie als Hippotherapeutin mit erwachsenen Multiple-Sklerose-Patientinnen und -Patienten und mit Kindern. Vor vier Jahren hat sie an der ZHAW das Certificate of Advanced Studies (CAS) Hippotherapie erworben und steht nun auf der Warteliste für das Erweiterungsmodul für die Behandlung von Kindern. «Auf dem Pferd fällt es den Kindern leichter, bei den Übungen eine halbe Stunde durchzuhalten», erklärt die passionierte Reiterin, die selber zwei Pferde besitzt. Viele Menschen mit Behinderung würden es zudem geniessen, mal wieder durch einen Wald oder über Feldwege zu streifen, weil sie sonst nicht oft an die frische Luft kommen.
Bei Kindern ist Hippotherapie vor allem bei Trisomie 21 und Cerebralparese, das heisst bei motorischen Einschränkungen aufgrund einer Hirnschädigung, indiziert. Die rhythmischen, dreidimensionalen Bewegungen des Pferderückens führen zu einer besseren Bewegungsfähigkeit in der Lendenwirbelsäule und den Hüftgelenken und können auch schmerzlindernd wirken. Zudem wird eine symmetrische Körperhaltung gefördert. Während bei tiefer Muskelspannung eine Kräftigung eintritt, würden die biomechanischen Effekte bei spastischen Kindern die Spannung reduzieren, erklärt Tiziana Grillo, Leiterin des CAS Hippotherapie an der ZHAW. Selbstverständlich spiele wie bei jeder Therapie aber auch die psychische Komponente eine Rolle, räumt die Dozentin ein: «Der Kontakt mit den Tieren und der Natur tut den beeinträchtigten Menschen gut.»
Michelle sitzt alleine im Sattel
Kurz nachdem Jerome sich von Minning verabschiedet hat, wartet auf dem Islandpferdehof schon das nächste Kind auf seinen kleinen Ausritt: Die neunjährige Michelle sitzt im Rollstuhl und wird von ihrem Vater in den weichen Sattel gehoben. Sie hält die Augen geschlossen und wirkt noch ziemlich schläfrig. Deshalb setzt sich Debora Laumer hinter sie auf das Pferd und stützt sie unter den Armen.
Das Mädchen leidet an einem seltenen Gendefekt namens CDKL5. Mit sechs Wochen setzten bei ihm regelmässige epileptische Anfälle ein, die zu einer Cerebralparese mit schlaffer Körperhaltung führten. Durch die Pferdebewegungen soll der Muskeltonus verbessert werden. Nach einigen Minuten öffnet Michelle die Augen und schaut sich die Umgebung an. Sie kippt vornüber und lässt sich auf die weiche Pferdemähne sinken. Laumer lässt sie gewähren und ermuntert sie, selber wieder aufzusitzen. Sie schafft das auch. Auf dem Rückweg steigt die Therapeutin ab und lässt das Mädchen alleine auf dem Pferd sitzen. Sie muss es nur noch rechts und links an der Hüfte etwas stützen.
Michelle kommt seit drei Jahren in die Hippotherapie. Auch sie hat daneben Physio- und Feldenkrais-Therapie. Diese Kombination habe zu einer Kräftigung der Rumpfmuskulatur und zu einer besseren Koordination geführt, sagt ihr Vater Patric Benz. Er glaubt, dass seine Tochter die Ausflüge in der Natur geniesst, obwohl sie das nicht selber sagen kann. «Sie wirkt zufrieden. Wenn es ihr nicht gefiele, würde sie es zeigen.» //
WEITERBILDUNG AN DER ZHAW: CAS HIPPOTHERAPIE PLUS
Das Institut für Physiotherapie an der ZHAW ist die einzige Institution in der Schweiz, die ein CAS für Hippotherapie anbietet.
Der Weiterbildung wendet sich an Physiotherapeutinnen und -therapeuten mit Reiterfahrungen und neurologischer Zusatzausbildung. Im ersten Modul stehen der Umgang mit Therapiepferden und die Biomechanik des Pferderückens im Zentrum. Im zweiten Modul werden Krankheitsbilder von Erwachsenen behandelt, bei denen eine Hippotherapie indiziert ist. Das dritte Modul widmet sich der Behandlung von Kindern.
Der Ansatz geht auf die Schweizer Physiotherapeutin Ursula Künzle zurück, die in den 1960er-Jahren an der Neurologischen Klinik Basel begann, Pferde in der Behandlung von Patienten mit neurologischen Erkrankungen einzusetzen. Weil auch diverse andere therapeutische Aktivitäten mit Pferden zum Teil unter dem Namen Hippotherapie laufen, wird die wissenschaftlich fundierte Therapieform gemäss dem Namen ihrer Begründerin als Hippotherapie-K® bezeichnet.
WEITERE INFORMATIONEN
- CAS «Hippotherapie plus» an der ZHAW
- Schweizer Gruppe für Hippotherapie K®
- ZHAW-Profil von Tiziana Grillo