Mit Freude in Bewegung kommen

Ein Fünftel der 65- bis 74-Jährigen in der Schweiz bewegt sich zu wenig. Das liegt auch am fehlenden Wissen über passende Angebote. Ein am Departement Gesundheit entwickeltes Beratungsangebotsoll Senior:innen helfen, aktiver zu sein.

von Tobias Hänni

Margrit Huber hat Angst. Davor, erneut zu stürzen. Seit sich die 82-jährige Witwe bei einem Sturz den Oberschenkelhals gebrochen hat, bereitet ihr das Gehen Schwierigkeiten. Auch mental: Ging sie früher gerne spazieren, hat sie nun grosse Bedenken, allein längere Strecken zurückzulegen. Die eingeschränkte Mobilität trägt nicht nur zur Einsamkeit bei, die Frau Huber plagt – sondern auch dazu, dass sie sich generell zu wenig bewegt.

Die Seniorin ist keine reale Person, sondern eine von drei Personas, die im Projekt «Konzeptentwicklung für eine Bewegungsberatung im Quartier» am ZHAW-Departement Gesundheit definiert worden sind. Die fiktiven Figuren stehen stellvertretend für jene Schweizer Senior:innen, bei denen physische Aktivität zu kurz kommt. «Rund 20 Prozent der 65- bis 74-Jährigen bewegen sich zu wenig. Bei den über 75-Jährigen sind es gemäss Schweizerischer Gesundheitsbefragung gar 34 Prozent», sagt Leah Reicherzer vom Projektteam. Bekannte Barrieren sind beispielsweise körperliche Einschränkungen und chronische Erkrankungen, ein Mangel an Motivation oder an Unterstützung durch das soziale Umfeld, aber auch fehlende Bewegungsangebote oder Grünflächen in der nahen Umgebung. «Ausserdem ist es nicht für alle einfach, etwa im Internet nach Bewegungsangeboten zu suchen und ein geeignetes Angebot auszuwählen.»

Einfacher Weg zur Beratung

Genau da setzt das Konzept für die Bewegungsberatung an, welches das interprofessionelle Projektteam mit einer Begleitgruppe von Senior:innen, Angehörigen und Fachpersonen entwickelt hat. «Der Erstkontakt und damit der Zugang zur Beratung muss niederschwellig sein – das hat uns der Austausch mit der Begleitgruppe gezeigt», sagt Projektleiterin Irina Nast. Das Projekt verfolgt deshalb einen aufsuchenden Ansatz mit Gesundheitsfachleuten als «Bewegungslots:innen»: Spitex-Mitarbeitende,  Hausärzt:innen, Therapeut:innen und andere Fachpersonen, die mit älteren Menschen arbeiten, vermitteln diese auf Wunsch an das Beratungsangebot. «Denkbar ist auch, weitere Organisationen und Betriebe einzubinden und beispielsweise in Coiffeursalons oder Kirchen auf das Angebot aufmerksam zu machen», führt die Professorin und Forscherin am Institut für Physiotherapie aus.
Die Beratung selbst wird von Bewegungsexpert:innen mit entsprechender Aus- oder Weiterbildung übernommen. Sie klären das bisherige Bewegungsverhalten ab, definieren mit den Senior:innen Ziele, vermitteln passende Angebote und unterstützen die älteren Menschen auf ihrem dynamischeren Weg.

Spass in der Gruppe

Der Beratungsablauf lässt sich am Beispiel von Margrit Huber veranschaulichen: Von ihrer Physiotherapeutin wird sie an eine Bewegungsberaterin im Quartier vermittelt. Im Erstgespräch vereinbart diese mit Frau Huber zwei Ziele: Kurzfristig soll das Sturzrisiko in der Wohnung der Seniorin gesenkt werden, langfristig soll diese wöchentlich an einem Bewegungsangebot teilnehmen. In der Umsetzungsphase eliminieren Mitarbeitende der Rheumaliga Stolperfallen in Margrit Hubers Wohnung, die Seniorin besucht im Quartier probehalber eine Gymnastikgruppe. Im weiteren Verlauf unterstützt die Beraterin die Seniorin dabei, das veränderte Bewegungsverhalten aufrechtzuerhalten. Mit Erfolg: Margrit Huber findet Gefallen an der Gymnastik und nimmt regelmässig daran teil. Sie hat im Kurs zudem neue Kontakte geknüpft und geht nun jeweils mit einer anderen Teilnehmerin zu Fuss zur Gymnastik.
Damit die Beratung langfristig zu einer Verhaltensänderung führe, müsse sie die Freude an Bewegung wecken, sagt Irina Nast. «Es ist zentral, Aktivitäten und Angebote zu finden, die der Seniorin oder dem Senior Spass machen.» Deshalb könne es sinnvoll sein, jemand Gleichgesinntes einzubeziehen – ein Peer, der die ältere Person auf dem Weg zu mehr Bewegung unterstützt. «Manche Senior:innen schreckt es ab, allein ein Angebot in Anspruch zu nehmen. Mit Peers lässt sich diese Hürde abbauen.» Für andere sei eine solche Begleitperson dagegen weniger wichtig oder vielleicht gar nicht erwünscht. «Das ist eine unserer Haupterkenntnisse: Eine Pauschallösung gibt es nicht, die Beratung muss auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten werden», so Nast.
Nach Abschluss der konzeptionellen Arbeit möchte das Projektteam das Beratungsangebot im Raum Winterthur testen und dessen Nutzen und Wirksamkeit evaluieren. «Idealerweise hier im Sulzerareal, wo das Departement Gesundheit seinen Standort hat und sehr gut vernetzt ist», sagt Irina Nast. Die Finanzierung des Pilots versucht das Team derzeit mit Anträgen bei Stiftungen sicherzustellen. //

Vitamin G, S.28/29


Positive Botschaften vermitteln

Gesundheitsfachpersonen sind laut der Forscherin Leah Reicherzer in einer idealen Position, um bei Senior:innen die Freude an Bewegung zu wecken. So können sie
– aufzeigen, dass Bewegung nicht nur körperlich guttut, sondern auch soziale Kontakte oder schöne Naturerlebnisse mit sich bringen kann.
– auf Bewegungsangebote hinweisen und Tipps für einen aktiveren Alltag geben, wie beispielsweise auf den Lift zu verzichten oder den Weg zum Wochenmarkt zu Fuss zurückzulegen. Die Kernbotschaft: Jede Bewegung ist besser als keine Bewegung.
– mit den Senior:innen realistische Ziele finden, etwa mit Blick auf Empfehlungen für ältere Menschen, wie sie unter anderem das Bewegungsnetzwerk hepa.ch herausgibt. So lassen sich die empfohlenen 150 Minuten ausdauerorientierter Bewegung pro Woche auch mit alltäglichen Aktivitäten erreichen, bei denen
man etwas ausser Atem kommt. Dazu gehören zum Beispiel Putzen oder Gartenarbeit.


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