Sie zeigt Sicherheitsmängel im Spital auf, lässt in den Körper hineinsehen oder eine Klientin zu Hause besuchen: Am Departement Gesundheit wird das Potenzial von Virtual Reality (VR) vielseitig genutzt.
von Andrea Söldi
Im Spitalbett liegt eine alte Frau mit einer Infusion und einem Verband am Arm. Etwas weiter hinten erblicke ich eine Gesundheitsfachperson mit einem blauen Einwegkittel über der Berufskleidung. Ich sehe mich im Zimmer um und drücke an den ringförmigen Handgriffen einen Knopf. Sofort verändert sich die Perspektive, die ich über die schwere Virtual-Reality-Brille an meiner Stirn wahrnehme. Nun zoome ich auf die Beschriftung des Infusionsbeutels und erkenne, dass die Patientin ein Antibiotikum erhält.
Die VR-Anwendung namens «Room of Horror» kommt am ZHAW-Departement Gesundheit im interprofessionellen Modul des sechsten Semesters zum Einsatz, innerhalb des Themas «Interprofessionalität mal so mal anders». Im virtuellen Spitalzimmer sind diverse Fehler versteckt, die für die Patientin eine Gefahr darstellen. «Je nach Profession fallen den Studierenden unterschiedliche Probleme auf, die sie nachher zusammen diskutieren können», erklärt Monika Bolliger, Dozentin an der Fachstelle Interprofessionelle Lehre und Praxis. Dadurch könnten die angehenden Gesundheitsfachpersonen verschiedener Berufe ihr jeweiliges Rollenverständnis und ihre spezifischen Sichtweisen gemeinsam weiterentwickeln.
Sicherheit im Spital verbessert
Bevor sie 2020 an die ZHAW wechselte, war Bolliger Leiterin Pflegeentwicklung am Kantonsspital Glarus. Dort hatte sie in einem realen Spitalzimmer einen «Room of Horror» eingerichtet für eine interprofessionelle Weiterbildung, an der knapp 300 Mitarbeitende teilnahmen – vom Reinigungs- und Küchenpersonal über die Pflege, Ergo- und Physiotherapie bis zur Ärzteschaft. Einige gravierende Sicherheitsprobleme seien nur Einzelnen aufgefallen, erzählt Bolliger. «Wir haben alle unsere blinden Flecken.» Wenn man etwas Verdächtiges bemerke, sollte man es deshalb unbedingt ansprechen, ganz gleich, welche Funktion man habe. Dasselbe gelte für Angehörige.
Die Fehler hat Bolliger aufgrund des anonymen Meldesystems CIRS (Critical Incident Reporting System) sowie Hinweisen der Mitarbeitenden zusammengetragen. Nach der Weiterbildung seien die Einträge im CIRS um mehrere Prozentpunkte zurückgegangen.
Realitätsnäher als Text und Bild
Im interprofessionellen Modul am Departement Gesundheit wird die Anwendung in Gruppen von sieben Studierenden verwendet – so viele, wie VR-Brillen zur Verfügung stehen. Anschliessend wechseln die angehenden Pflegefachpersonen, Ergotherapeutinnen, Hebammen, Physiotherapeuten und Präventionsfachleute an den Computer, wo eine interaktive 360-Grad-Ansicht durch Detailaufnahmen erlaubt, weitere Sicherheitsprobleme zu erkennen. Zum Beispiel können sie dort Einblick in die Patientendokumentation nehmen, in der verordnete Medikamente sowie Allergien vermerkt sind. Danach können sie diese Informationen mit der Realität im Spitalzimmer vergleichen. Im Fall der Patientin im «Room of Horror» zeigt sich, dass mit dem Medikament in der Infusion etwas nicht stimmt.
Digitale Lernformen seien sehr geeignet, um den Praxisalltag realitätsnäher abzubilden, als dies etwa ein Text oder ein Bild leisten könnten, erklärt René Schaffert, Dozent Interprofessionelle Lehre und Praxis. «Im Spitalalltag passieren Fehler, weil es oft hektisch ist.» Der Unterricht mit den digitalen Tools komme bei den Studierenden sehr gut an.
In den Körper eintauchen
Am Departement Gesundheit wird auch in zwei weiteren Unterrichtssequenzen mit VR-Brillen gelernt. Die Pflege-Studierenden haben zum Beispiel die Möglichkeit, in den menschlichen Körper hineinzusehen. In der virtuellen Ansicht können sie dreidimensionale anatomische Strukturen begutachten und krankhafte Veränderungen beobachten – zum Beispiel, was mit einer Lunge bei jahrelangem Rauchen geschieht. Derweil tauchen Ergotherapie Studierende in den Alltag einer Klientin im Rollstuhl ein. Sie beobachten, wie sie eine Wähe aus dem Ofen nimmt und hören die Gedanken, die sich die anwesende Ergotherapeutin dabei macht.
Diese Denkprozesse – im Fachjargon Professional Reasoning genannt – gehen der Planung der Interventionen voraus. Dank der VR-Erfahrung können Studierende schon ganz am Anfang ihrer Ausbildung eine Klientin virtuell zuhause aufsuchen. Sie lernen, sich in sie hineinzufühlen und die therapeutischen Massnahmen genau auf ihre Bedürfnisse anzupassen.
Weitere Anwendungen erwünscht
Im Rahmen des Kompetenzzentrums Digitale Lehre treffen sich die Dozierenden der verschiedenen Institute, die für die Umsetzung von Virtual Reality im Unterricht zuständig sind, regelmässig zum Erfahrungsaustausch und diskutieren mögliche weitere Anwendungen. Monika Bolliger, die aktuell an einer Dissertation über Extended Reality – ein Überbegriff für Augmented Reality, Virtual Reality und Mixed Reality – in der Interprofessionellen Lehre arbeitet, und René Schaffert könnten sich zum Beispiel die Simulation von Kommunikationssituationen vorstellen, bei der Avatare ihre Befindlichkeit mit Sprache, Mimik, Gestik und Körperhaltung zum Ausdruck bringen. Dies würde Studierenden etwa bei der Patientenedukation die Chance bieten, Desinteresse oder Überforderung zu erkennen und ihre Reaktion darauf spielerisch auszuprobieren. Im englischsprachigen Raum existiere bereits ein entsprechendes Programm, doch dieses müsste auf die hiesige Sprache und Kultur angepasst werden, sagt René Schaffert. «Leider ist die Entwicklung neuer Applikationen sehr aufwendig und teuer.» //
Das Denken nimmt KI nicht ab
Vor zwei Jahren kam ChatGPT auf den Markt, eine Künstliche Intelligenz (KI), die zu jedem Thema Informationen liefern und Texte verfassen kann. Seither sind zahlreiche andere KI-Anwendungen auf den Markt gekommen. «An den Hochschulen wurden wir von der Welle regelrecht überrollt», sagt Peter Rüesch, Professor für Public Health. Die Studierenden seien oft schon vertrauter mit den diversen Tools als manche Dozierende, die kaum Zeit finden, sich damit auseinanderzusetzen.
Vor diesem Hintergrund nimmt sich das Departement Gesundheit dem Thema vertiefter an (siehe auch Beitrag «Mit KI offen, aber auch kritisch umgehen»). So sollen Dozierende vom internen ExpertenNetzwerk e@mG bei der Integration von KI-Werkzeugen in den Unterricht unterstützt werden. Peter Rüesch hat zudem eine Unterrichtseinheit für den Studienbeginn entwickelt, in dem aufgezeigt wird, wie mit den Tools umzugehen ist und wie ihre Verwendung deklariert werden muss. Um zu verhindern, dass der Algorithmus mit Daten der ZHAW trainiert wird, darf im Hochschulkontext nur das Microsoft-Tool namens Co-Pilot verwendet werden, das der Bezahlversion von ChatGPT4 entspricht. Für die Suche nach wissenschaftlicher Literatur eigne sich dieses aber nicht besonders, weiss Rüesch. Seine Hauptbotschaft an die Erstsemestrigen ist, dass KI niemandem das Denken abnehmen kann. Sie könne auch keine ganze Bachelorarbeit selbstständig schreiben. «Man sollte KI nicht als Intelligenz verstehen, sondern lediglich als Assistenz.»