Wie geht es einer Person, die ihre Bedürfnisse nicht mehr äussern kann? Ein neues Instrument soll Pflegenden und Angehörigen helfen, das Befinden von Menschen mit Demenz einzuschätzen.
VON ANDREA SÖLDI
Schmerzen, Verstopfung, Übelkeit oder Mundtrockenheit: Wer an fortgeschrittener Demenz erkrankt ist, kann derartige Symptome oft nicht mehr verbal mitteilen. Betroffene sind davon abhängig, dass Pflegende und Angehörige entsprechend aufmerksam und sensibel sind, um derartige Beschwerden zu erkennen. Dabei soll Betreuungspersonen nun ein neues Erfassungsinstrument helfen, mit dem sich die Befindlichkeit von Menschen mit Demenz ganzheitlich und umfassend einschätzen lässt. Die sogenannte IPOS-Dem-Skala (Integrierte Palliative Care-Outcome-Skala Demenz) wurde vom ZHAW Institut für Pflege aufgrund bestehender Instrumente aus England und Deutschland weiterentwickelt. Auf fünf Seiten formulieren Pflegepersonen oder Angehörige zuerst in eigenen Worten die Hauptprobleme der dementen Person in der letzten Woche, die Hauptanliegen der Angehörigen sowie die Bedenken der Betreuenden. Im zweiten Teil setzen sie bei einer Liste von Symptomen Kreuze auf einer Skala zwischen «gar nicht» und «sehr stark». Dabei werden auch Aspekte wie Bedrücktheit, Ängstlichkeit oder die Kontaktfähigkeit berücksichtigt.
Blinde Flecken ausmerzen
Erste Erfahrungen mit dem Hilfsmittel hat die Spitex Oberaargau AG gemacht. «Der Fragebogen lässt uns Lücken besser erkennen», sagt Chantal Marbach, Fachfrau Gesundheit. «Wenn man jemanden über längere Zeit betreut, besteht die Gefahr, dass man immer auf die gleichen Pflegeprobleme fokussiert und andere übersieht.» Wird die Spitex zum Beispiel wegen einer Wunde oder einem Knochenbruch beigezogen, denke man oft nicht daran, auch nach der Schlafqualität zu fragen.
Aktuell pflegt Marbach einen demenzkranken Mann, der nicht mehr sprechen kann und von seiner Partnerin betreut wird. Beim Ausfüllen des Fragebogens habe sich herausgestellt, dass die Inkontinenz ein grosses Problem darstellt. «Das ist vorher gar nie zur Sprache gekommen», erzählt Marbach. «Dank dem Fragekatalog konnten wir die Partnerin beraten und ihr geeignete Materialien für Inkontinenz zur Verfügung stellen.»
Neben der Spitex Oberaargau testen derzeit 24 weitere Deutschschweizer Spitex-Betriebe die IPOS-Dem. Diese wurde zusammen mit Angehörigen und Pflegenden am King’s College in London entwickelt und an der Klinik für Palliativmedizin der Universität München ins Deutsche übersetzt. Im Rahmen der Studie Seniors-D hat sie das ZHAW Institut für Pflege nun auf das ambulante Setting in der Schweiz angepasst.
«In der Schweiz leben immer mehr Menschen mit Demenz zu Hause», erklärt Projektmanagerin Susanne de Wolf-Linder. Häufig sei hierzulande die Spitex involviert, wo hauptsächlich Fachangestellte Gesundheit (FaGe) arbeiten. «Diese Pflegenden und die Angehörigen machen sehr wertvolle Beobachtungen. Doch häufig gehen diese Informationen nicht weiter.» Für die Lebensqualität der betrofenen Personen sei es aber wichtig, dass ihre Symptome und Bedürfnisse möglichst gut erkannt und Veränderungen dokumentiert werden, erklärt die Palliative-Care-Expertin. Deshalb wolle man den Spitex-Betrieben ein wissenschaftlich geprüftes Assessment-Instrument zur Verfügung stellen.
Perspektive der Betroffenen
Die IPOS-Dem umfasst körperliche, psychische, soziale wie auch spirituelle Aspekte und fokussiert dabei stets auf die Perspektive der Menschen mit Demenz. Es gehe nicht darum, die Symptome an sich zu beschreiben, sondern einzuschätzen, wie stark sie die Betrofenen beeinträchtigen, erklärt de Wolf-Linder. Läuft eine Person zum Beispiel viel umher, kann das eine sinnvolle Bewältigung der inneren Unruhe sein. Ist das Herumlaufen aber Ausdruck von Verzweiflung, steht ein Leiden dahinter, dem man sich annehmen sollte. «Natürlich bleibt auch dies letztendlich eine Fremdeinschätzung», räumt die Wissenschaftlerin ein.
Bei der Überarbeitung des deutschen IPOS-Dem konnten sich drei verschiedene Fachgruppen mit Pflegepersonen und Angehörigen einbringen. Zudem begleitet und berät eine Interessengruppe, die ebenfalls aus Pflegepersonen und Angehörigen besteht, das Studienteam eng bei der Entwicklung und der Verbreitung des neuartigen Instruments.
Schweizerdeutscher Jargon
In einer ersten Phase wurde die deutsche Version an den deutschschweizerischen Kontext angepasst. Auf Anregung der Fachgruppen hat das Projektteam etwa das Wort «jucken» durch «beissen» ersetzt und statt «Prothese» heisst es nun «künstliches Gebiss». Bei der Frage, ob die Person mit anderen in Kontakt treten konnte, wurde der Aspekt der Körperberührung ergänzt, weil diese Kontaktmöglichkeit im privaten Umfeld eine grössere Rolle spielt als in einer Institution.
Nachdem Pflegende und Angehörige die aktuelle Version als nützlich erachteten, läuft nun die letzte Testphase. Dabei füllen zwei verschiedene Pflegepersonen oder Angehörige den Bogen innerhalb von 48 Stunden bei der gleichen Person aus, sowie nochmals 45 Tage später. Danach wird das Team überprüfen, wie gut die Resultate übereinstimmen und ob sich auch Veränderungen des Gesundheitszustands abbilden. So will man herausfinden, ob die IPOS-Dem einerseits misst, was sie messen soll (Validität), und anderseits, wie verlässlich die erhaltenen Resultate sind (Reliabilität). Bis Ende September wurde das Instrument an 100 Menschen mit Demenz getestet und bis Ende Jahr sollen weitere dazukommen.
Anwendung im Arbeitsalltag
Pflege-Organisationen arbeiten bereits heute mit verschiedenen standardisierten Kriterienlisten, um den Pflegebedarf zu erfassen und zu dokumentieren. Ein demenzspezifisches Instrument habe in der Vergangenheit jedoch definitiv gefehlt, sagt Chantal Marbach von der Spitex Oberaargau. «Wir sind froh, dass nun endlich eines entwickelt wird und leisten deshalb gern unseren Beitrag, damit wir es möglichst schnell in unserem Arbeitsalltag anwenden können.» //