Die Schweiz ist längst eine hypervielfältige Gesellschaft, die von migrantischer Innovation lebt, sagt Migrationsforscher Ganga Jey Aratnam. Was die Migration mit Einheimischen macht und weshalb es bei der Integration klare Direktiven braucht, erklärt er im Interview.
von Lucie Machac
Herr Jey Aratnam, Sie bezeichnen die Schweiz als hypervielfältig. Weshalb?
Rund ein Drittel der hier lebenden Menschen ist im Ausland geboren. Damit haben wir nach Luxemburg den höchsten Migrationsanteil aller OECD-Länder. Betrachten wir die jüngere Bevölkerung, ist dieser Anteil noch höher: Heute haben 58 Prozent der 0- bis 6-Jährigen in der Schweiz mindestens einen Elternteil, der im Ausland geboren ist. Und in der Stadt Zürich haben ganze 70 Prozent der 15- bis 60-Jährigen einen im Ausland geborenen Elternteil. Wir sind also längst eine migrantische, hypervielfältige Gesellschaft. Allerdings ist diese Realität noch nicht in allen Köpfen angekommen.
Woran liegt das?
Das Thema Migration beschränkt sich medial sehr oft auf Asylsuchende, obwohl diese Gruppe nicht den Grossteil der Migration ausmacht. Gleichzeitig hat die Schweiz seit den 1990er-Jahren technologisch, demografisch und wirtschaftlich eine rasante Entwicklung erlebt, die die einheimische Bevölkerung zum Teil überfordert.
Inwiefern?
Früher war alles übersichtlicher. Es gab entweder Migros oder Coop, die Schweizer Grossbanken, der grosse Pharmakonzern hiess Ciba Geigy. Heute ist es für die meisten Leute schwierig, die fünf umsatzstärksten Firmen in der Schweiz aufzuzählen. Es sind alles Rohstofffirmen, die die meisten gar nicht kennen, die grösste ist Vitol. Es gibt also eine grosse Diskrepanz zwischen dem Mythos, was die Schweiz ist, und der Realität, wie sie wirklich ist.
Hat diese Diskrepanz auch damit zu tun, dass die hohen Migrationszahlen öffentlich kaum bekannt sind?
Ich denke, das wahre Ausmass der Migration wird durch die Aufbereitung der Zahlen verdeckt. Im Gegensatz zu Deutschland werden in der Schweiz Kinder, die einen im Inland geborenen Elternteil haben, statistisch automatisch ohne Migrationshintergrund erfasst. Das finde ich nicht progressiv, denn es verschleiert, dass das Kind während seiner Sozialisierung auch die Migrationserfahrung vom anderen Elternteil mitbekommt. Betrachten wir die Eheschliessungen, ergibt sich ein ähnliches Bild.
Nämlich?
In 52 Prozent aller Eheschliessungen in der Schweiz hat mindestens eine Person keinen Schweizer Pass. Bei schwulen Paaren beträgt dieser Anteil sogar mehr als 70 Prozent. Das heisst, Eheschliessungen tragen ebenso zur Migration bei. Bei heterosexuellen Ehen haben wir zudem das Phänomen, dass ein beträchtlicher Teil derer, die sie eingehen, nicht unbedingt migrationsfreundlich ist. Schweizer Männer heiraten oft asiatische Frauen oder Frauen aus Osteuropa oder Südamerika, weil sie konservativ eingestellt sind und eine «häusliche» Frau suchen. Dabei vergessen sie aber, dass auch diese Frauen oft emanzipiert sind. Migration wird uns also nicht einfach von extern aufgezwungen, wir selbst wählen diesen Weg.
Im Alltag schürt Migration auch Ängste, weil andere Kulturen andere Wertvorstellungen mitbringen, die mit unseren nicht immer vereinbar sind.
Ich kann diese Ängste gut verstehen. Gerade manche junge Männer haben andere Wertehaltungen punkto Gleichberechtigung und Menschenrechte. Da müssen wir klare Direktiven geben, damit alle Migrant:innen verstehen, dass diese Grundwerte universell sind.
Wie sollen solche Direktiven aussehen?
Jede Person, die hierherkommt, sollte die Grundrechte in der Schweiz kennen und akzeptieren. Damit meine ich zum Beispiel: Mann und Frau sind gleich, Sex vor der Ehe ist nicht verboten, Homosexualität darf nicht diskriminiert werden. Deshalb plädiere ich dafür, dass in Integrationskursen nicht nur die Sprache oder unsere Mülltrennung behandelt wird, sondern mehr Gewicht auf Gleichstellungsfragen, das soziokulturelle Zusammenleben und sexuelle Rechte gelegt wird. Viele Migrant:innen sind mit einem Lebensprojekt in die Schweiz gekommen. Da sollten wir ansetzen. Integration ist Knochenarbeit. Aber wir müssen auch diese Tabus ansprechen.
Wie wollen Sie überprüfen, ob das tatsächlich in den Köpfen ankommt?
Integration ist eine Daueraufgabe. Das heisst, wir können solche Dinge auch in der Kaffeepause thematisieren. Wir dürfen und sollen uns einmischen, was vielen gar nicht so leicht fällt. In der Schweiz pflegen wir eine Kultur des Nebeneinanders – siehe Röstigraben oder auch Polentagraben. Wir lassen uns gern in Ruhe, weil wir Konflikte scheuen. Migration aber bringt unweigerlich ein Miteinander mit sich, das sich mitten in unserem Alltag manifestiert, sogar innerhalb der Familie, wenn zum Beispiel jemand eine ausländische Person heiratet. Wir müssen uns dieser Realität also stellen, ob wir wollen oder nicht. Und ich sehe es als eine zwischenmenschliche Verpflichtung, dass wir die Menschenrechte auch im Alltag einhalten.
Wie würden Sie das Nichteinhalten sanktionieren?
Heute müssen Migrant:innen je nach Aufenthaltsbewilligung ein bestimmtes Deutschniveau erreichen, um in der Schweiz bleiben zu können. Ist dies nicht der Fall, wird ihre Bewilligung heruntergestuft und am Schluss droht die Ausweisung. Statt solcher Sanktionen könnte man bei gesellschaftlichen Themen wie eben Gleichberechtigung oder Sexualität mehr auf Sensibilisierung setzen. Zudem finde ich, dass auch Schweizer:innen über Migration aufgeklärt werden sollten.
Damit wir andere Kulturen besser verstehen?
Es geht nicht darum, dass alteingesessene Schweizer Bürger:innen den Nahost verstehen oder Baklava backen lernen. Ich meine vielmehr, dass sie über die migrantische Entwicklung der Schweiz besser aufgeklärt werden sollten, damit ihnen bewusst wird: Die migrantische Realität besteht eben nicht nur aus Flüchtlingen.
Was können wir von Migrant:innen lernen?
Wenn wir die Wirtschaft betrachten, lebt die Schweiz mehrheitlich von migrantischer Innovation. Bei den Firmenneugründungen sind Personen ohne Schweizer Pass im Vergleich zur Gesamtbevölkerung übervertreten. 50 Prozent aller Start-ups werden von Ausländer:innen gegründet. Nehmen wir Unicorn-Start-ups, also Unternehmen, die mehr als eine Milliarde wert sind, dann wurden diese sogar zu 78 Prozent von Personen ohne Schweizer Pass gegründet. Das heisst, es gibt bei Migrant:innen so etwas wie einen Gründergeist, einen Willen, etwas zu erreichen. Da können wir sicher einiges dazulernen.
Sind wir faul geworden?
Migration macht oft faul. Dank Migrant:innen haben wir in vielen Bereichen wie Bau, Gastro oder Handel genügend Arbeitskräfte, so dass wir gar nicht über neue Arbeitsmodelle nachdenken oder die Innovation vorantreiben müssen. Ausländische Arbeitskräfte können also die Fortentwicklung von Einheimischen bremsen. Und nicht nur das: Sie verlangsamen auch die Emanzipation der Männer in der Schweiz.
Wie das?
Die meisten Frauen mit Kindern arbeiten hier Teilzeit. Lediglich ein Prozent der Frauen mit einer höheren Berufsbildung respektive einem Universitäts- oder Fachhochschulabschluss sieht die Vereinbarkeit von Familie und Karriere als ausschliesslich positiv an. Wenn unsere Devise aber Gleichstellung lautet und die Politik mehr weibliche Führungskräfte anstrebt, haben wir ein Problem. Wollen wir es lösen, sollten wir uns bei der Emanzipation nicht immer nur an Frauen richten. Wir müssen unbedingt auch all die Männer mit einem Kinderwunsch ins Boot holen und sie gut darüber aufklären, was es bedeutet, Kinder in einer gleichberechtigten Welt grosszuziehen. Doch stattdessen importieren wir heute die Gleichstellung aus dem Ausland: Laut dem Schilling-Report sind 91 Prozent der weiblichen Geschäftsleitungsmitglieder in börsenkotierten Unternehmen Ausländerinnen.
Was schlagen Sie vor?
Nehmen wir das Beispiel Ärztinnen: Seit 2006 absolvieren in der Schweiz mehr Frauen ein Medizinstudium als Männer. Dennoch gibt es weit mehr Chefärzte als Chefärztinnen, die wir sowieso grösstenteils aus dem Ausland importieren. Politik und Wirtschaft sollten in der Schweiz lebende Frauen also gezielter ermutigen, Kaderpositionen anzustreben, indem zum Beispiel spezielle Karriereprogramme für sie angeboten werden, die mit der Familie vereinbar sind. Es bräuchte auch ein klares politisches Ziel, zum Beispiel 50 Prozent mehr Chefärztinnen in zehn Jahren. Dies kann aber nur gelingen, wenn wir auch die Männer in der Schweiz emanzipieren. //
Ganga Jey Aratnam (51) doktorierte in Sri Lanka und in Grossbritannien in Sozialmedizin. An der Universität Basel erfolgte seine Zweitpromotion in Soziologie. Er forscht und publiziert unter anderem zu Migration, Rohstoffhandel, Arbeitsmarkt und Reichtum in der Schweiz. Jey Aratnam ist mit 22 Jahren in die Schweiz gekommen und lebt heute mit seiner Partnerin in Zürich. Seit diesem Jahr arbeitet er in einem internationalen Zürcher Beratungsunter nehmen. Daneben engagiert er sich ehrenamtlich im sozialen Bereich.