Besuche von Freiwilligen beugen Einsamkeit vor. In einem Pilotprojekt der ZHAW untersuchen Pflegeforschende der ZHAW, wie diese Begleitung wirkt und sich in Gemeinden verankern lässt.
von Susanne Wenger
In der Schweiz fühlt sich jede vierte Person über 55 einsam, bei den über 85-Jährigen sogar jede dritte, so der Altersmonitor 2024 der Stiftung Pro Senectute. Einsamkeit bedeutet aber nicht, allein zu sein, sondern unter fehlendem Anschluss zu leiden. Und eine solche «soziale Isolation schadet nachweislich der Gesundheit», sagt Franzisca Domeisen, Pflegewissenschaftlerin an der ZHAW. Sie verweist auf psychische und körperliche Folgen wie HerzKreislauf-Probleme und vermehrte Schmerzen. Auch das Demenzrisiko steigt bei fehlenden sozialen Kontakten.
Domeisen und ihr Team entwickeln am Institut für Pflege eine Intervention auf Gemeindeebene, um Betroffene gezielt zu unterstützen und ihre Lebensqualität zu steigern: «In einem Pilotprojekt untersuchen wir, wie regelmässige, emotional stützende Begleitung durch Freiwillige das Wohlbefinden und die Gesundheit beeinflusst», erläutert Domeisen. «Und was das für Angehörige und die Spitex bedeutet.» Zugleich prüfen sie, wie sich die Begleitung als Teil eines lokalen Gesundheits- und Sozialnetzes organisieren lässt. Bestehende Besuchsdienste, kommunale Stellen und Leistungserbringer wie die Spitex sollen dabei zusammenarbeiten. Die Ergebnisse werden zum Abschluss des Projekts Ende 2026 vorliegen.
Soziale Integration
«Betroffene sind oft schwer zu erreichen. Auch, weil Einsamkeit ein Tabuthema ist», sagt Domeisen. Spitex-Mitarbeitende bemerken bei ihrer Arbeit, ob jemand isoliert lebt, und können auf Begleitangebote hinweisen. Am Forschungsprojekt beteiligt ist der Besuchs- und Begleitdienst des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) Aargau. Dort waren im letzten Jahr 77 Freiwillige für 93 Klient:innen im Einsatz. Zwei Drittel der Begleiteten sind im Rentenalter, ebenso die meisten Freiwilligen, berichtet SRK-Bereichsleiterin Christin Degenhardt. Sie verzeichnet einen steigenden Bedarf: «Einsame Menschen sollen sich wieder verbunden fühlen durch gemeinsam verbrachte Zeit und Aktivitäten, die der Seele guttun.» Das Ziel sei die soziale Integration.
Die 76-jährige Silvia Schätzle nutzt das Angebot des SRK Aargau seit drei Jahren, nach einem Hinweis der Hausärztin. Sie ist seit längerem blind, ihr Mann starb vor fünf Jahren. Doch sie bleibt trotz allem unternehmungslustig. Eine Freiwillige holt sie jeden Dienstag ab. «Ich habe das Glück, einmal pro Woche aus dem Haus zu kommen», sagt die Seniorin. In ihrem Haus kommt sie zurecht. Wo nötig, hilft ihr Sohn. Sie kocht und putzt selbst, hat einen kleinen Garten und einen Sitzplatz, auf dem sie gerne die Sonne geniesst. Sie hört Radio, strickt viel und virtuos: Socken und Jäckchen. «Aber manchmal fällt mir die Decke auf den Kopf», sagt sie.
Zu fit fürs Altersheim
Mit der Freiwilligen, die nur wenig älter ist als sie, geht sie mittagessen, Kaffee trinken oder in die Gelateria. Sie kaufen Wolle ein oder suchen in einer Gärtnerei Blumen aus. Blind und verwitwet zu sein, kann einsam machen. Dessen ist sich Silvia Schätzle bewusst. «Nicht alle können mit meiner Situation umgehen», stellt sie fest. Dass sich Bekannte abwenden, sei eine schmerzliche Erfahrung gewesen. Doch nur noch herumsitzen? «Das würde mir auf die Psyche schlagen», sagt die frühere Verkäuferin entschlossen. «Dagegen wehre ich mich.» Sie bleibt bewusst in Bewegung, trifft sich jeden Monat mit einer Freundin und freut sich, wenn eine Nachbarin spontan vorbeikommt. Mit beiden geht sie spazieren, auch das Wanderangebot einer Fachstelle für Sehbehinderungen nutzt sie. «Ich bin gut zu Fuss», sagt sie. «Und viel zu fit fürs Altersheim.» Wer ihr zuhört, merkt: Silvia Schätzle legt Wert auf ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen. Sie lädt die Freiwillige zum Essen ein, strickt für sie und ihren Mann. Manchmal ruft sie selbst Menschen an, von denen sie weiss, dass sie allein sind und Probleme haben. Silvia Schätzle hofft, dass sich weiterhin Freiwillige finden: «Das ist etwas so Gutes und Wichtiges.»
Mangelndes Verständnis
Auch die 43-jährige Melanie Fässler nutzt seit fast einem Jahr den SRK-Besuchsdienst. Ihr Beispiel zeigt, dass nicht nur Ältere in Situationen sind, die soziale Kontakte erschweren. Die Aargauerin ist schwer an Krebs erkrankt. Nach zahlreichen Therapien entschied sie, auf weitere zu verzichten, und wird nun palliativ betreut. «In der Zeit, die mir bleibt, will ich das Leben geniessen», sagt sie. Ihr Partner arbeitet, tagsüber ist sie allein. Dass einmal pro Woche eine Freiwillige vorbeikommt, schätzt sie sehr. Schon beim ersten Besuch der Frau, die altersmässig ihre Mutter sein könnte, fühlte sie sich wohl: «Ihre Ausstrahlung ist so warm, dass man sich in den Arm genommen fühlt.» Die beiden reden, gehen spazieren oder etwas trinken. Wegen ihrer Erkrankung braucht Melanie Fässler für die meisten Ausflüge einen Rollstuhl. Manchmal malen sie zusammen oder hören Musik. Melanie Fässler ist Heavy-MetalFan und besucht jedes Jahr das Open Air Wacken in Deutschland. An dem Anlass werde Rücksicht auf Menschen mit Behinderungen genommen, erzählt sie – etwas, das ihr im Alltag oft fehlt. Nicht nur ihre eingeschränkte Mobilität isoliert Melanie Fässler. Einige frühere Kontakte hätten wenig Verständnis für ihr verändertes Verhalten, so ihr Eindruck.
Ermutigt und gestärkt
Die Freiwillige hingegen ermutige und stärke sie – etwa, als Melanie Fässler sich die Haare pink färbte und den Instagram-Account «Melirockt das Leben» eröffnete. Dort spricht sie offen über ihre Situation, um zu sich selbst zu stehen und andere zu sensibilisieren. Der Kontakt mit der Freiwilligen beschränkt sich längst nicht mehr auf den wöchentlichen Termin. Sie schreiben sich Nachrichten und schicken sich Ferienfotos. «Ich habe eine Freundin gewonnen», sagt sie. //