Haushalten statt spielen

Sorgenfrei die Kindheit und Jugend geniessen? Young Carers bleibt dies meistens verwehrt: Schon in jungen Jahren übernehmen sie viel Verantwortung, indem sie sich um ein krankes Familienmitglied kümmern. Ihr eigenes Leben bleibt dabei häufig auf der Strecke.

von Tobias Hänni

Mit Behörden verhandeln statt Freunde treffen. Haushalten statt spielen. Pflegen statt unbeschwert feiern. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die ein Familienmitglied betreuen und pflegen, führen oft ein Leben, das sich stark von dem Gleichaltriger unterscheidet. Sie werden Young Carers genannt und sie sind zahlreich: 2017 zeigte die erste repräsentative Studie für die Schweiz, dass rund acht Prozent der 10- bis 15-Jährigen eine Person betreuen oder pflegen – das sind knapp 40’000 Kinder und Teenager. Bei jungen Erwachsenen, sogenannten Young Adult Carers, sei der Anteil mit bis zu knapp 30 Prozent noch deutlich höher, heisst es im Gesundheitsbericht 2020 des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums OBSAN.

Rolle wird nicht eingestanden

«Das Thema findet öffentlich noch wenig Beachtung», so eine der Schlussfolgerungen im Bericht. Selbst Fachpersonen aus Gesundheit, Bildung und Sozialwesen seien noch zu wenig sensibilisiert. «Young Carers sind in der Schweiz ein Tabuthema», bestätigt Franzisca Domeisen Benedetti. Die Forscherin am ZHAW-Institut für Pflege befasst sich mit pflegenden Angehörigen. «Als Teil der Familienkonstellation sind dabei natürlich auch Kinder und Jugendliche betroffen. Doch sie nehmen sich selbst häufig gar nicht als Young Carer wahr», sagt Domeisen Benedetti. «Das liegt einerseits an der Art der Betreuung. Sie übernehmen weniger pflegerische Aufgaben, sondern unterstützen etwa emotional oder in administrativen Fragen.»

Anderseits könne die Art der Krankheit dazu beitragen, dass sich Young Carers ihre Rolle nicht eingestehen. «Viele von ihnen betreuen eine psychisch kranke Person. Und es fällt ihnen schwer, über das psychisch kranke Elternteil zu sprechen», so die Wissenschaftlerin. Sie geht deshalb davon aus, dass die Dunkelziffer an Young Carers relativ hoch ist. «Zu dieser Gruppe und zu pflegenden Angehörigen im Allgemeinen braucht es mehr Sensibilisierung – aber auch mehr Forschung.»

Negative Folgen für eigene Entwicklung

Die Auswirkungen, welche die Rolle für die Betroffenen haben kann, sind weitreichend. Die Unterstützungsarbeit ist laut dem OBSAN «oft sehr umfangreich». So leisteten rund 40 Prozent der Young Carers in der Schweiz ein hohes oder sogar sehr hohes Mass an Betreuung und Pflege. In Österreich wenden 14 Prozent der Young Carers fünf oder mehr Stunden am Tag für die Unterstützung eines Angehörigen auf, wie eine dortige Studie zeigt.

Die Folgen der intensiven Betreuung und Pflege sind laut OBSAN häufigere körperliche und psychosoziale Probleme, ein eingeschränktes Sozialleben sowie Schwierigkeiten in Schule und Ausbildung. Trauer, Isolation, Müdigkeit und Ausbildungsabbrüche: Die Betreuungsaufgaben seien in vielen Fällen mit negativen Erfahrungen verbunden – «emotional, sozial, körperlich oder ausbildungsbezogen». Oft führe die Rolle auch in die Einsamkeit, so Domeisen Benedetti. Es ist ein Gefühl, dass nicht nur junge, sondern pflegende Angehörige jeden Alters empfinden (siehe Kasten).

Emotionale Last alleine tragen

Young Carer zu sein, hat aber nicht nur negative Seiten, hebt das OBSAN hervor. Positive Aspekte seien die persönliche Reife und die Entwicklung eines Verantwortungssinns, die Aneignung von praktischen und sozialen Fähigkeiten, Stolz und ein guter Selbstwert. Kinder und Jugendliche würden ihre Rolle meist als positiv beurteilen, sagt Domeisen Benedetti. Sie setzt allerdings ein Fragezeichen hinter diese Einschätzung. «Die Betroffenen wollen nicht jammern oder gar die betreute Person in ein schlechtes Licht rücken.» Die Unterstützungsarbeit werde ausserdem als etwas Selbstverständliches angesehen – «wie es für die meisten von uns selbstverständlich wäre, diese zu übernehmen». Dazu trage bei, dass die meisten Kinder und Jugendlichen unbewusst in die Rolle hineinrutschten und die übernommenen Aufgaben nach und nach zunähmen.

Dass junge Menschen ihre Rolle oft herunterspielen, darauf deutet auch die Bachelorarbeit von Karoline Fink und Nadine Kaninke hin. Die Ergotherapeutinnen haben Interviews mit drei jungen Erwachsenen geführt, die einen Elternteil nach einem Schlaganfall betreuen. Alle drei Befragten nahmen die Aufgaben nur als Kleinigkeiten wahr, heisst es in der Arbeit. Er könne gar nicht sagen, «dass es mich so extrem beeinflusst hat, dass ich gewisse Sachen nicht mehr machen konnte», wird einer der Young Adult Carers zitiert. «Das Ausmass der Arbeit sagt allerdings noch nichts über die Belastung aus, insbesondere nicht über die emotionale», sagt Karoline Fink. Während der zeitliche Aufwand gemildert werden könne, indem Aufgaben etwa an eine Fachperson abgegeben werden, sei dies bei der emotionalen Belastung kaum möglich. «Diese müssen Jugendliche und junge Erwachsene häufig alleine tragen», so Fink.

Sie fühlen sich übergangen

Diese Last weckt bei den Betroffenen verschiedene negative Gefühle. «Sie empfinden etwa Frust, Ungeduld und Unverständnis gegenüber der Situation, teils auch gegenüber dem betreuten Elternteil», führt Nadine Kaninke aus. Daneben sei in den Gesprächen aber immer auch eine grosse Liebe für den Vater oder die Mutter spürbar gewesen. Mit Blick auf die eigene Person hätten die jungen Erwachsenen Hilflosigkeit und Selbstzweifel geäussert. Oder in den Worten eines Interviewten: «Ab und zu hast du das Gefühl: Hey Scheisse Bro, was soll ich machen – ich bin komplett überfordert mit dieser Situation.» Die Überforderung liege häufig am fehlenden Fachwissen über die richtige Betreuung, so die Autorinnen. Schwierig könne auch der Kontakt mit Health Professionals oder Behörden sein. «Gewisse behördliche Entscheide sind für Young Adult Carers nicht nachvollziehbar. Und im Austausch mit Gesundheitsfachpersonen fühlen sie sich oft übergangen», sagt Fink. «Die Partnerin oder der Partner der betreuten Person wird angesprochen – die Kinder werden es nicht.»

Gewünscht: Austausch und Fachwissen

Für die Ergotherapeutinnen ist es deshalb essenziell, dass Health Professionals über das Thema Bescheid Wissen und dafür bereits in der Ausbildung sensibilisiert werden. Neben Ansprechpersonen wünschen sich die jungen Erwachsenen zudem Gruppenangebote für den Austausch mit anderen Betroffenen. «Ein solches Angebot sollte ausserdem Fachwissen vermitteln», so Kaninke. Sie und Fink haben aus den Gesprächen eine Handlungsempfehlung erarbeitet. Diese dient als Grundlage, mit der im Rahmen einer weiteren Bachelorarbeit ein Pilotprojekt für Young Adult Carers im Gesundsheitszentrum Thetriz der ZHAW realisiert werden soll.

Neben zusätzlichen Angeboten brauche es mehr Koordination zwischen bestehenden Anlaufstellen, sagt Franzisca Domeisen Benedetti. «Eine Vernetzung besteht nicht wirklich.» Abhilfe schaffen könne beispielsweise ein Case Management auf kommunaler Ebene, das Informationen und Unterstützung bündle und koordiniere. Und das Thema müsse enttabuisiert werden – auch bei den Betroffenen selbst. «Sich Hilfe zu holen, sollte nichts sein, wofür man sich schämen muss.»//

Vitamin G, Seite 12-14


Pflegen macht einsam

Einsamkeit ist bei pflegenden Angehörigen weit verbreitet. Doch wie erleben sie diesen Zustand? Die Pflegefachfrau Flurina Chistell hat eine qualitative Studie dazu durchgeführt und mit pflegenden Angehörigen von chronisch kranken Menschen gesprochen.

Wenn Menschen ein Familienmitglied betreuen, leidet darunter oft ihr eigenes Leben: Das Arbeitspensum wird reduziert, das Sozialleben zurückgefahren, persönliche Träume werden begraben. «Die Betroffenen müssen viel aufgeben – das führt oft zu einem einsamen Leben», sagt Flurina Chistell. Für ihre Masterarbeit hat die Pflegefachfrau mit 13 pflegenden Angehörigen darüber gesprochen, wie sie Einsamkeit erleben. «Ein Grossteil leidet unter sozialer Einsamkeit.» Sprich: Die Anzahl und Qualität der zwischenmenschlichen Kontakte entsprechen nicht mehr den Bedürfnissen.

Daneben sind pflegende Angehörige auch emotional einsam: Mit der zunehmenden Pflegebedürftigkeit der betreuten Person veränderte sich die Beziehung komplett. «Vor allem Frauen erwähnten, dass sie nicht mehr Partnerin oder Tochter sind – sondern eine Mutterrolle innehaben», führt Flurina Chistell aus. «Ihre Bedürfnisse nach emotionaler Nähe, Austausch oder körperlicher Zärtlichkeit werden nicht mehr befriedigt.» Nicht zuletzt litten viele der Studienteilnehmenden unter existenzieller Einsamkeit. «Diese zeigt sich in der Perspektivenlosigkeit, was eigene Ziele, Wünsche und Pläne betrifft.»

Trauer über den Verlust

Die aussichtslose Situation führe zu Hilflosigkeit und Ohnmacht, sagt Chistell. «Und sehr oft empfinden pflegende Angehörige Trauer über den Verlust des gewohnten Lebens oder des geliebten Menschen.» Zwei Aussagen hätten sie besonders berührt: «Ich habe das Gefühl, dass ich alles aufgegeben habe. Es ist nichts mehr da.» Und: «Wenn ich mich so allein fühle, tut es mir fast körperlich weh.»

Um pflegende Angehörige vor Einsamkeit zu bewahren, braucht es laut Chistell primär eine Sensibilisierung – vor allem bei Health Professionals. «Diese spielen eine zentrale Rolle beim Erkennen von Einsamkeit. Und sie können Optionen zur Entlastung aufzeigen und Informationen zu Hilfsangeboten abgeben.» Ausserdem brauche es vermehrt Selbsthilfegruppen für pflegende Angehörige. //


Weitere Infos

Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


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