Blick ins Living Museum in New York: Im Stadtteil Queens entstand 1983 das erste Museum dieser Art

«DURCH DIE KUNST WERDEN VORURTEILE ABGEBAUT»

In den «Ateliers-Living Museum» in der Psychiatrie St.Gallen Nord in Wil (SG) können sich Menschen mit einer psychischen Erkrankung künstlerisch betätigen. Leiterin Rose Ehemann erklärt im Gespräch, warum sie das Konzept des Living Museum Anfang der 2000er-Jahre von New York in die Schweiz gebracht hat. Und weshalb das Kunstschaffen nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft eine heilsame Wirkung hat.

VON TOBIAS HÄNNI

Rose Ehemann, im Living Museum an der Psychiatrie St.Gallen Nord sind Menschen mit einer psychischen Erkrankung künstlerisch tätig. Kann künstlerisches Arbeiten die Psyche heilen?
Kunst und Heilung stehen seit jeher in enger Wechselbeziehung. Vor allem, wenn mit Heilung die Steigerung von Lebensqualität gemeint wird, kann man feststellen, dass es immer wieder Heilungsmomente gibt. Allerdings beanspruchen wir im Living Museum nicht, alle Menschen von ihrer psychischen Erkrankung befreien zu können. Manche Betroffenen begleitet die psychische Erkrankung ihr Leben lang – entscheidend ist, wie sie einen bestmöglichen Umgang damit finden können. Gerade deshalb ist es so wichtig, ihnen stressfreie und wertschätzende Orte, beispielsweise Kunstasyle wie das Living Museum zur Verfügung zu stellen. An diesen Orten können sie sein, wie sie sind. Sie müssen sich nicht verstellen, sie erfahren Wertschätzung und Anerkennung als wertvolle Individuen, die sehr wichtig für unsere Gesellschaft sind, da sie uns viel lehren können. Ihr Durchhaltevermögen, ihre Authentizität und Klugheit ist immer wieder beeindruckend.

Welchen Einfluss hat eine psychische Erkrankung auf das künstlerische Arbeiten?
Menschen, die psychische Extremerfahrungen gemacht haben, haben häufig einen speziellen Zugang zu Kreativität und Originalität. Teilweise nehmen sie Sphären wahr, in denen die Engel fliegen oder sie sehen andere übersinnliche Dinge und kommunizieren mit Seelenwelten. Diese Wahrnehmungen bilden sich dann auch in den künstlerischen Werken ab.

Das erste Living Museum wurde in den 1980er-Jahren in New York ins Leben gerufen. Welche Philosophie steht hinter dem Konzept?
Das Living Museum beruht auf der Überzeugung, dass Menschen, die psychische Extremerfahrungen gemacht haben, automatisch gute Künstlerinnen und Künstler sind. Das Living Museum bietet ihnen eine familienähnliche Gemeinschaft, in der sie in einer Atmosphäre von Wärme und Solidarität als einzigartige und wertvolle Persönlichkeiten angenommen sind. Inklusion wird beim Living Museum anders herum gedacht: Statt die Menschen mit psychischen Erkrankungen wieder in stressvolle Arbeitssituationen zu inkludieren, was ihrer psychischen Verfassung oft nicht zuträglich ist, soll die Gesellschaft ins Living Museum kommen und dort heil werden – denn die Gesellschaft braucht ebenfalls Heilung. Wenn ich beobachte, was mit Menschen passiert, die das Living Museum besuchen, dann ist das meist eine Transformation. Sie staunen über die phänomenalen künstlerischen Arbeiten und die Liebenswürdigkeit der Kunstschaffenden. So können Vorurteile und Stigmatisierungen, die leider noch weit verbreitet sind, abgebaut werden und vorher undenkbare menschliche Begegnungen entstehen, die alle nachhaltig prägen.

Sie haben das Konzept 2004 in die Schweiz gebracht. Was hat Sie dazu bewogen?
Sie können sich gar nicht vorstellen, was bei mir passiert ist, als ich das erste Mal einen Fuss in das Living Museum New York gesetzt habe. Das was ich bereits erwähnt habe, diese positive menschliche Transformation, die hat auch bei mir stattgefunden. Durch das Living Museum New York bin ich als Person gereift. Es hat mir geholfen, Unsicherheit, Pessimismus und Selbstkritik abzulegen und die Vision zu entwickeln, ein Living Museum in Europa aufzubauen. Letztlich bin ich aus privaten Gründen in der Schweiz gelandet. Die Geschäftsleitung der Psychiatrie St. Gallen Nord (PSGN) hat mir damals die Chance gegeben, das Living Museum in Wil aufzubauen, wofür ich heute noch sehr dankbar bin.

Wurde die Idee hierzulande damals gut aufgenommen?
Es gab sehr viel konstruktives Feedback und einige wenige kritische Stimmen. Ich bin auch für diese Kritik sehr dankbar, da sie mir ermöglicht, mein eigenes Handeln immer wieder zu hinterfragen und fachliche wie auch persönliche Themen weiterzuentwickeln.

Und wie ist die Akzeptanz heute?
Mittlerweile sind die «Ateliers – Living Museum» fester Bestandteil der Behandlung an der PSGN. Auch die Stiftung Heimstätten Wil hat mir ermöglicht, innerhalb der Tagesstätte das «Living Museum»-Konzept einzubringen, was über die Jahre zusammen mit den Naturateliers der PSGN zu einem tollen Verbund namens Living Museum Wil führte. Gemeinsam haben wir schon viele grosse Kunstausstellungen bestritten und die Kunstmesse Living Museum Wil erstmals im Jahr 2019 durchgeführt. Diese wurde mit über 1500 Besuchenden zu einem schönen Erfolg – dank der fantastischen Kunstwerke unserer beteiligten Kunstschaffenden. Mittlerweile haben wir einen Living Museum Verein in der Schweiz gegründet, der zum Ziel hat, andere Living Museums beim Aufbau zu unterstützen. Das Living Museum Lyss beispielsweise existiert bereits seit drei Jahren. Living Museums in Genf, Bern und Zürich befinden sich in der Entwicklung. Weltweit existieren mittlerweile 16 Living Museums, 30 weitere befinden sich im Aufbau.

Sind Menschen mit einer psychischen Erkrankung besonders kreativ?
Mehrere aktuellere Studien legen eine Verbindung zwischen psychischer Krankheit und erhöhter Kreativität nahe. Meine langjährigen Erfahrungen können das bestätigen. Aber ich möchte ergänzen, dass in jedem Menschen Kreativität angelegt ist, und wenn man genügend Zeit in das künstlerische Werk legt, kann sich jeder zu einem guten Künstler, einer guten Künstlerin entwickeln. Ganz nach dem deutschen Aktionskünstler Joseph Beuys, der sinngemäss gesagt hat: Jeder Mensch ist ein Künstler, da wir alle in unseren Lebenswegen individuelle Entscheidungen treffen, die eine einzigartige Lebensgestaltung und damit ein Lebenswerk nach sich ziehen. Das ist meine individuelle, freie Interpretation seines Werkes.

Welche Wirkung beobachten Sie an den Menschen, die in den Ateliers tätig sind?
Das Kunstschaffen hat sehr viele verschiedene Wirkungen. Eine davon ist der Spannungsabbau: Angestaute Energien, Ängste oder Aggressionen können in der Kunst kanalisiert, veräussert und auf einen Bildträger oder in eine Skulptur gebannt werden. Diese Form von Katharsis führt zur Entspannung. Nicht greifbare Gestalten, die im Innern des Menschen wirken, verlieren den Schrecken, sobald sie im Aussen sichtbar und bearbeitbar werden. Das wirkt beruhigend und stabilisiert die Psyche.

Durch die künstlerische Tätigkeit kann zudem wieder Sinn im Leben entstehen. Durch die Aktivierung aller Sinne kann der Mensch sich als aktiv Handelnder und Wahrnehmender in der Welt erleben. Die Künstlerinnen und Künstler müssen Lösungen finden, sie lernen, wieder Entscheidungen zu treffen, und die Kontrolle über das eigene Handeln wiederzuerlangen. All diese Qualitäten können vom Spielerischen und Experimentellen in der Kunst auf das alltägliche Handeln übertragen werden. Die Menschen können so zu Autonomie und selbstbestimmten Handeln zurückfinden.

Durch den schöpferischen Prozess entsteht zudem häufig ein Flow-Erleben, das heisst das Eintauchen in einen Prozess fern von Angst und Langeweile. Während dieses Flows, der auch beim Spielen oder anderen Tätigkeiten entstehen kann, werden körperliche und seelische Schmerzen vergessen. Es ist ein Aufatmen in einem Dauerzustand von psychischem und körperlichen Leid. Diesen Zustand beobachte ich besonders oft bei Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden.

Und nicht zuletzt steigt durch die Ausstellungen, die wir organisieren, das Selbstbewusstsein der Kunstschaffenden, die sich oft als Ballast in der Gesellschaft empfinden. Sie erhalten ein positives Feedback vom Publikum, das sie mit Stolz erfüllt und sie motiviert, weiterzumachen. Das Gefühl, aktiv an der Gesellschaft teilzuhaben und einer sinnhaften Tätigkeit nachgehen zu dürfen, wirkt sich sehr positiv auf ihr Selbstempfinden aus und trägt zur Gesundheitsprävention bei.

Welche Botschaft soll das Living Museum nach aussen tragen?
Dass Menschen mit psychischen Erkrankungen besondere Fähigkeiten in der Kunst und im Leben besitzen, die uns als Gesellschaft ungemein bereichern. Sie sind sensibel, humorvoll, extravagant, intelligent, authentisch und liebenswürdig. Wir möchte alle Menschen einladen, ins Living Museum zu kommen, um die Kunstschaffenden und diesen einmaligen Ort, der auch als Sozialutopie oder als Ort der Wärme umschrieben wird, selbst zu erleben. Ausserdem möchten wir durch den weltweiten Aufbau von Living Museums dafür sorgen, dass sich die Kunstschaffenden weltweit vernetzen und in Austausch treten können. Dazu organisieren wir regelmässig länderübergreifende Ausstellungen, die für alle Beteiligten ein riesiger Gewinn sind.

Welche Wirkung haben die Kunstwerke und der Austausch mit den Künstlern auf die Besucherinnen und Besucher des Living Museums?
Besucherinnen und Besucher, die zum ersten Mal kommen, bestaunen meist die hohe künstlerische Qualität der Werke, ihre Authentizität, Einmaligkeit und Direktheit. Die Werke berühren und gehen unter die Haut. Einige Besucherinnen und Besucher kommen sehr regelmässig vorbei, da sie begeistert sind, wie sich das Living Museum immer wieder selbst transformiert, immer wieder neue Werke hervorbringt. Bei den Ausstellungen wechseln auch viele Werke ihre Besitzer. Die Kunstschaffenden freuen sich sehr, wenn sie die Arbeiten verkaufen können, wenngleich der finanzielle Aspekt in der Philosophie des Living Museums einen geringen Stellenwert hat. Entscheidender ist der künstlerische Prozess im Sinne von Beuys, der jeden Tag wieder neu entsteht, sich immer wieder transformiert entlang der Mitwirkenden und den Werken. Es gibt keinen Alltag im Living Museum, jeder Tag ist wieder einzigartig und unberechenbar. Das ist auch für mich ein Geschenk und der Grund, warum ich mich auch nach 18 Jahren noch auf jeden neuen Arbeitstag freue.//


Rose Ehemann ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin, Kunsttherapeutin und Kulturmanagerin. Sie leitet die «Ateliers – Living Museum» am Standort Wil (SG) der Psychiatrie St.Gallen Nord und ist Künstlerische Leiterin/Beraterin in der Tagesstätte der Heimstätten Wil.


WEITERE INFORMATIONEN

Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


1 Kommentar

  • Liebe Rose
    Vielen Dank für deinen interessanten Beitrag. Ich kann deine Ausführungen vollumfänglich bestätigen, dank meiner Praktikumstage die ich im Living- Museum erleben durfte.
    Es ist eine riesige künstlerische wie therapeutische Energie spürbar in den verschiedenen Ateliers.
    Ich hoffe ihr habt die Coronakrise bis heute gut gemeistert.
    Liebe Grüsse Gabriela Bähler.


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