20 000 Entscheidungen treffen wir laut Schätzungen täglich – meist schnell und intuitiv. Aufstehen oder weiterträumen? Kaffee oder Tee? Jacke oder Pullover? Einige Entscheidungen bereiten uns mehr Kopfzerbrechen, etwa wenn es um Beruf, Familie oder Gesundheit geht. Wie fassen wir Entschlüsse? Und können wir lernen, klug zu entscheiden?
VON RITA ZIEGLER
Jonas studiert Wirtschaftsinformatik, Thomas Sozialarbeit. Hanna wählt die Altbauwohnung im Szeneviertel, Theo das Haus auf dem Land. Charlotte heiratet Beat und Mario entscheidet sich, auf eine weitere Chemotherapie zu verzichten. Indem wir Entscheidungen treffen, teilen wir der Welt mit, wer wir sind und worauf wir Wert legen. Wir gestalten unsere Identität. «Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind», sagt Dumbledore in J. K. Rowlings «Harry Potter und die Kammer des Schreckens». Wählen können bedeutet, die Freiheit zu haben, sich selbst zu verwirklichen. Und doch fällt uns dies manchmal schwer. Entscheiden tut weh. Kein Wunder, denn es bedeutet immer auch, sich von bestimmten Möglichkeiten zu verabschieden. Mit Spinoza gesprochen: «Jede Entscheidung ist Verneinung.» Wenn ich in die Berge fahre, kann ich mich nicht zugleich am Strand räkeln. Und wenn die Wanderferien in die Hose gehen, kann ich niemand anderen dafür verantwortlich machen. Schliesslich habe ich mich selbst aus freien Stücken dafür entschieden. Wahlfreiheit bedeutet also auch Verantwortung – und die kann schwer lasten.
WENIGER IST MEHR
Sheena Iyengar, Ökonomin und Psychologin, hat in einer Studie über 600 Menschen aus neun Glaubensrichtungen zu ihrer Religiosität und ihrem Optimismus befragt. Sie teilte die Befragten den Gruppen «fundamentalistisch», «moderat» oder «liberal» zu. Zu ihrer Überraschung waren fundamentalistisch orientierte Menschen optimistischer und hoffnungsvoller als die anderen. Obwohl sie in vielen Fragen einfach den Glaubensregeln folgten, hatten sie das Gefühl, über das eigene Leben zu bestimmen.
Die freie Wahl zu haben, folgert die Psychologin, ist also nicht der einzige Weg zu gefühlter Selbstbestimmung und Zufriedenheit. In einem anderen Experiment von Iyengar wurden Besuchern eines Lebensmittelgeschäfts exotische Marmeladen zum Probieren angeboten. Einmal standen sechs Sorten zur Auswahl, einmal 24. War das Sortiment umfangreicher, traten mehr Kunden an den Stand heran. Doch nur drei Prozent von ihnen kauften tatsächlich ein Produkt. Von dem kleineren Angebot hingegen erwarb jeder Dritte ein Glas. Obwohl die Teilnehmer eine grosse Auswahl intuitiv bevorzugten, erschwerte oder verunmöglichte ihnen die Vielzahl der Optionen eine Entscheidung. In einer Variation des Experiments zeigte sich zudem, dass Teilnehmer ihre Produkte im Nachhinein besser bewerten, wenn sie aus einem kleineren Sortiment ausgewählt wurden. Eine allzu grosse Auswahl scheint uns also zu überfordern und in der Tendenz unzufriedener zu machen. Schliesslich besteht stets die Möglichkeit, dass eine andere Wahl noch besser gewesen wäre und uns noch glücklicher machen würde. Mit der Auswahl steigen auch unsere Erwartungen: Gut ist plötzlich nicht mehr gut genug.
DER MÜNDIGE PATIENT
Der amerikanische Professor für Sozialtheorie Barry Schwartz beschreibt dieses Phänomen in seinem Buch «The Paradox of Choice» sowie in einer unterhaltsamen TED-Präsentation, die auf Youtube bisher knapp zwei Millionen Mal angeklickt wurde. Auch er erwähnt die Last der Verantwortung und bezieht sich in seinen Beobachtungen unter anderem auf den Gesundheitskontext: In den USA teile einem der Arzt nicht mehr mit, was in einer bestimmten Situation zu tun sei. Stattdessen präsentiere er dem Patienten einen Weg A und einen Weg B mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen sowie der Aufforderung, selbst zu wählen. Fragt der Patient den Arzt, was seine Empfehlung sei, wiederhole dieser bloss das bereits Gesagte, ohne Stellung zu beziehen. Das Beispiel illustriert die Idee des aufgeklärten Patienten, der selbstbestimmt entscheiden soll – und damit unter Umständen überfordert ist. Dennoch: Zur paternalistischen Bevormundung durch den Arzt will wohl niemand zurückkehren. Einen Mittelweg strebt das Modell des Shared Decision Making an, das im Gesundheitswesen der Schweiz zunehmend Beachtung findet. Grundlage ist hier eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Arzt und Patient, in der Informationen in beide Richtungen fliessen: Der Arzt stellt die medizinischen Informationen bereit, der Patient berichtet von seinen Präferenzen und Lebensumständen. In einem gemeinsamen Prozess, in den weitere Personengruppen wie Angehörige, Pflegende oder Therapeuten involviert sein können, wird eine für den Patienten passende Massnahme gewählt. Diese partizipative Entscheidungsfindung ist idealerweise Basis für den gesetzlich verankerten Informed Consent, bei dem der Patient nach ausreichender Aufklärung in eine Behandlung einwilligt.
NICHT EVIDENT: DER UMGANG MIT EVIDENZ
Das Shared Decision Making beschreibt das Wie einer guten Entscheidungsfindung – handfeste Gründe für oder gegen eine Behandlung liefert es aber nicht. Eher zu erwarten ist dies von der evidenzbasierten Medizin, die fordert, dass patientenorientierte Entscheidungen auf empirisch nachgewiesener Wirksamkeit beruhen. Dies bedeutet auch: Wer Patienten klug beraten will, muss Studien verstehen und Erkenntnisse daraus richtig kommunizieren. Genau daran hapert es laut Risikoforscher Gerd Gigerenzer. In seiner Publikation «Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft» schreibt er: «Viele Experten sind nicht dazu ausgebildet, der Öffentlichkeit Risiken verständlich zu vermitteln, was höchst schockierend ist.» Dazu liefert er ein Beispiel aus Grossbritannien: Das britische Komitee für Arzneimittelsicherheit informierte flächendeckend darüber, dass Antibabypillen der dritten Generation das Thromboserisiko verdoppeln, also um 100 Prozent erhöhen. In der Folge setzten viele Frauen die Pille ab, was zu ungewollten Schwangerschaften und Abtreibungen führte. Die Studie, auf der die Warnung beruhte, hatte gezeigt, dass von 7000 Frauen, welche die Vorgängerpille der zweiten Generation genommen hatten, eine Frau eine Thrombose bekam. Bei 7000 weiteren Frauen, die Pillen der dritten Generationen nahmen, erhöhte sich die Zahl auf zwei. Während die relative Risikozunahme effektiv bei 100 Prozent lag, betrug die absolute Risikozunahme also bloss eins von 7000.
DER BAUCH DENKT MIT
Dass die Fähigkeit, Daten und Informationen richtig zu bewerten, in unserer aufgeklärten Welt unabdingbar ist, leuchtet ein. Doch was ist mit der Intuition? Gigerenzer zumindest hält von ihr grosse Stücke, denn Logik und statistisches Denken helfen nur, wenn wir sämtliche Risiken inklusive Wahrscheinlichkeiten kennen. Dies ist selten der Fall: Meist leben wir in einer Welt voller Ungewissheiten, in der sich die beste Option auch mithilfe riesiger Datenmengen nicht kalkulieren lässt. Uferlose Berechnungen können, so Gigerenzer, sogar Schaden anrichten, weil wir uns dadurch plötzlich in ungerechtfertigter Gewissheit wähnen. Stattdessen sei in solchen Fällen Intuition gefragt: «die Intelligenz des Unbewussten». Ein guter Entscheider zeichnet sich für Gigerenzer dadurch aus, dass er Erfahrung mit dem Gegenstand hat, also gut informiert ist, aber auch seiner Intuition vertraut. Ähnlich argumentiert Psychologin Maja Storch, die sich im Buch «Das Geheimnis kluger Entscheidungen» auf Erkenntnisse aus der Hirnforschung stützt. Sie unterscheidet zwischen dem bewusstem Denken und dem emotionalen Erfahrungsgedächtnis im Unbewussten. Letzteres beruht auf persönlichen Lebenserfahrungen und Werten, die es als Gefühle und Körperempfindungen abspeichert. Während Denkprozesse zeitintensiv, dafür detailliert und präzis sind, arbeitet das emotionale Erfahrungsgedächtnis blitzschnell. Die Ergebnisse, die es liefert, sind jedoch diffus und detailarm: ein gutes Bauchgefühl, ein Zittern im Bein, ein Druck auf der Brust. Solche somatischen Marker bieten unter Zeitdruck oder bei Informationsüberfluss eine wertvolle Orientierungshilfe. Den intuitiven Impuls können wir in einem zweiten Schritt auf Verstandesebene prüfen. Klug und zufriedenstellend entscheiden heisst laut Storch: «Inhalte aus dem emotionalen Erfahrungsgedächtnis und bewusste Verstandesfähigkeit miteinander zu koordinieren.» Dafür muss unsere Eigenwahrnehmung allerdings so weit entwickelt sein, dass wir somatische Marker auch erkennen und interpretieren können. Dies könnte sich lohnen, denn in den positiven Körpersignalen liegt eine zusätzliche Verheissung: Haben wir sie identifiziert und entdeckt, in welchen noch so unspektakulären Situationen sie auftreten, können wir unseren Alltag danach ausrichten. Für Storch liegt darin nichts weniger als ein gangbarer Weg zu mehr Lebenszufriedenheit. //
WEITERE INFORMATIONEN
- Referat von Professor Gerd Gigerenzer zu Risiko- und Gesundheitskompetenz, 2016
- Sheena Iyengar: Die Kunst des Entscheidens, TED-Talk, 2010
- Illusion der Freiheit, ZDF-Doku, 2009
- Barry Schwartz: The paradox of choice, TED-Talk, 2007
- Gute Entscheidungen treffen – Die Pizza-Probe, Maja Storch, In: Gehirn und Geist. Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung. Heft 1, 86-88. Spektrum der Wissenschaft: Heidelberg, 2004.