Stress, sitzende Tätigkeiten und zu wenig Bewegung haben zur Folge, dass wir im Alltag das Potenzial unserer Atmung nicht richtig nutzen. Dabei kann sie bewusst eingesetzt werden, um Körper und Geist zur Ruhe zu bringen und Krankheiten vorzubeugen.
VON TOBIAS HÄNNI
Es ist das Erste, was wir tun, wenn wir das Licht der Welt erblicken, und das Letzte, wenn wir sterben. Ein und aus und ein und aus, immerzu atmen wir, unser ganzes Leben lang. Ganz einfach eigentlich. Oder doch nicht? Wer sich zum Thema informiert, der könnte den Eindruck erhalten, als wüssten wir nicht mehr so recht, wie das geht mit der Atmung. «Richtig Atmen», «Erfolgsfaktor Sauerstoff», «Warum wir alle falsch atmen – und wie es richtig geht» – unter solchen und ähnlichen Titeln finden sich im Internet unzählige Kurse, Sachbücher, Artikel und Videos. Das wirft die Frage auf: Haben wir das Atmen verlernt? «Verlernen können wir es nicht, die Atmung ist ja ein unbewusster und automatischer Vorgang», sagt Jörg Spieldenner, Direktor der Lungenliga Schweiz und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Pneumologie.
«Unser emotionaler Zustand wirkt sich direkt auf die Atmung aus.»
Aber: «In der heutigen Gesellschaft arbeiten viele Menschen im Sitzen, bewegen sich zu wenig und haben Übergewicht.» Diese Faktoren wirkten sich nachteilig auf die Atemmuskulatur aus, allen voran auf das Zwerchfell. Durch dessen Bewegungen wird Luft in die Lunge befördert, die selber ein rein passives Organ ist: Wird das Zwerchfell angespannt, atmen wir Luft ein, entspannt es sich wieder, atmen wir aus. «Eine schwache Zwerchfellmuskulatur hat zur Folge, dass das Potenzial der Atmung zu wenig ausgeschöpft wird», sagt Spieldenner. Das gesteigerte Interesse an der Atmung, das sich in einer wachsenden Anzahl an Kursen, Ratgebern und Medienbeiträgen spiegelt, ist für den Arzt, Sportwissenschaftler und Gesundheitsökonomen deshalb eine positive Entwicklung. «Es ist richtig und wichtig, dass die Atmung zunehmend in das Körperbewusstsein integriert wird und die Menschen lernen, bewusst zu atmen.»
Pfeiler vieler Entspannungstechniken
Dass wir unsere Atmung bewusst steuern und so verbessern können, ist bemerkenswert: Wie andere überlebenswichtige Körperfunktionen wie Herzschlag, Körpertemperatur oder Stoffwechsel wird sie über das vegetative Nervensystem gesteuert und läuft deshalb grundsätzlich automatisch ab. So müssen wir nicht ständig daran denken, Luft zu holen. Die Atmung ist gleichzeitig die einzige vegetative Funktion, die wir willentlich steuern können. Diese Fähigkeit können wir nicht nur nutzen, um die Luft bei Gestank anzuhalten oder vor dem Abtauchen ins Wasser ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen. Wir können sie auch gezielt einsetzen, um unser
geistiges und körperliches Wohlbefinden zu steigern. Dieses Wissen ist in vielen Meditationslehren und Entspannungstechniken – insbesondere im asiatischen Kulturraum – seit Jahrtausenden tief verankert: So ist eine bewusste Atmung zentraler Pfeiler etwa im indischen Yoga, im chinesischen Qigong oder im japanischen Zen-Buddhismus.
«Wir können das vegetative Nerven system durch unsere Atmung überlisten.»
In den vergangenen Jahren hat sich dieses Wissen auch im westlichen Kulturraum zunehmend durchgesetzt – wozu unter anderem die wachsende Popularität von Achtsamkeitstechniken beigetragen hat. «Bei allen
diesen Techniken wird die Atmung als Anker eingesetzt, um Körper und Geist zur Ruhe zu bringen», sagt Irene Etzer-Hofer, Resilienzexpertin und Leiterin der Fachstelle Betriebliches Gesundheitsmanagement am ZHAW-Departement Gesundheit. Eine zentrale Rolle spielt das Atmen auch bei der Behandlung von psychischen Krankheiten, etwa Angststörungen oder Traumata. «Als Bestandteil von Entspannungstechniken kann bewusstes Atmen unterstützend bei fast allen psychischen Erkrankungen eingesetzt werden. Es ist der Schlüssel zu unterdrückten Emotionen – diese können durch die richtigen Atemübungen bewusst gemacht werden», so Etzer-Hofer.
Bei Stress atmen wir flach
Dass zwischen Atmung und Emotionen ein enger Zusammenhang besteht, darauf deuten zahlreiche Sprichwörter und Lebensweisheiten hin: Wir halten vor Angst den Atem an, wir müssen unserem Ärger Luft machen und wenn wir gestresst sind, sollen wir am besten ein paar Mal tief durchatmen. «Unser emotionaler Zustand wirkt sich direkt auf die Atmung aus. Sind wir entspannt, atmen wir tief und ruhig, bei Stress oder Angst dagegen flach und schnell», so Irene Etzer-Hofer. Verantwortlich dafür ist das vegetative Nervensystem, dass sich aus zwei gegensätzlich agierenden Teilsystemen zusammensetzt: Sympathikus und Parasympathikus. Der Parasympathikus versetzt den Körper in Ruhe- und Erholungsphasen in einen «Rest or Digest»-Modus. Der Stoffwechsel wird angekurbelt, die Herzfrequenz reduziert, die Atmung tiefer und langsamer. Der Sympathikus hingegen schaltet den Körper bei tatsächlicher oder empfundener Gefahr, bei Stress oder anderen Belastungen in einen «Fight or Flight»-Modus und damit in hohe Leistungsbereitschaft: Die Herztätigkeit und der Blutdruck steigen, die Muskelspannung und -durchblutung werden erhöht, der Stoffwechsel wird zurückgefahren, die Atmung geht schneller und flacher.
Dank der Atmung entspannter werden
Als der Mensch noch mit seinem Körpereinsatz ums nackte Überleben kämpfen musste, war die durch den Sympathikus ausgelöste körperliche Alarmbereitschaft unabdingbar. In der heutigen Zeit kann sie sich jedoch negativ auswirken. «Der Sympathikus wird durch unsere schnelllebige, digitalisierte und von Leistungsdruck geprägte Lebensweise zu oft aktiviert. In der Folge atmen viele Menschen im Alltag zu schnell und zu flach», sagt Irene Etzer-Hofer. Weitere Faktoren verstärken diese oberflächliche Atmung, insbesondere die grösstenteils sitzenden Tätigkeiten. Aber auch das gängige Schönheitsideal, das dazu führt, dass der Bauch eingezogen und zu enge Kleidung getragen wird, und eine verspannte Muskulatur schränken die Atmung ein.
Zu oberflächliches Atmen führt wiederum dazu, dass der Sympathikus aktiv bleibt und der Körper nicht zur Ruhe kommt – ein Teufelskreis, der zu anhaltendem Stress und dysfunktionalen Atemmustern führen kann, wie Etzer-Hofer sagt. Dieser Teufelskreis lasse sich jedoch umkehren. «Wir können das vegetative Nervensystem zwar nicht direkt steuern, doch durch unsere Atmung überlisten.» Will heissen: Wer bewusst tief und entspannt atmet, signalisiert dem Nervensystem, dass alles in Ordnung ist. Der Parasympathikus wird aktiviert, der Körper
schaltet in den Erholungsmodus. Das hat nicht nur positive Auswirkungen auf unseren emotionalen Zustand, indem wir uns ruhiger, entspannter und weniger gestresst fühlen. Eine tiefere Atmung fördert durch die erhöhte Sauerstoffzufuhr ins Gehirn auch die Konzentration und Aufmerksamkeit, hilft nachweislich bei muskulären Verspannungen und chronischen Schmerzen, senkt Herzschlag und Blutdruck – was indirekt Herz-Kreislauf Erkrankungen vorbeugt – und fördert den Stoffwechsel. Wissenschaftliche Studien deuten zudem darauf hin, dass die Gedächtnisleistung erhöht wird und dass eine kontrollierte und tiefe Atmung über die Aktivierung des Parasympathikus das Immunsystem stärkt und den Blutzuckerspiegel verbessert.
Kleiner Aufwand, grosser Nutzen
Um das Potenzial der Atmung auszuschöpfen, müsse man diese nicht ständig überprüfen und korrigieren, sagt Irene Etzer-Hofer. «Es reicht, im Alltag immer mal wieder innezuhalten und zu beobachten, wie man in diesem Moment atmet.» In solchen kurzen Pausen lassen sich gut kurze Übungen einbauen, um für ein paar Minuten bewusst zu atmen und Geist und Körper zu entspannen (siehe Übungen im Zweittext). «Das Tolle an der Atmung ist, dass man sie ohne grossen Aufwand ändern kann, für Gesundheit und Wohlbefinden aber einen grossen Nutzen daraus zieht», so Etzer-Hofer.
Doch wie sieht denn nun die ideale Atmung aus? «Man nutzt das Zwerchfell, das ja das eigentliche Atemorgan ist, und atmet tief und regelmässig in den Bauch», erklärt Etzer-Hofer. Wichtig dabei sei, auch lange auszuatmen. Denn: Wird das Ausatmen vernachlässigt, übersäuert der Körper, da dass Kohlendioxid aus der Atemluft nicht ausreichend abtransportiert wird.
Mit Bewegung die ganze Lunge belüften
Neben einfachen Atemübungen im Alltag sowie Atem- und Achtsamkeitskursen sieht Lungenliga-Direktor Jörg Spieldenner genügend Bewegung als unabdingbar an, um eine gesunde Atmung zu fördern. «Durch sportliche Aktivitäten kann man die Funktionsfähigkeit der Lunge und damit die Sauerstoffaufnahme steigern, insbesondere durch eine bessere Belüftung der gesamten Lunge.» Dies sei gerade bei chronischen Atemwegserkrankungen wichtig, so Spieldenner: Da bei diesen die peripheren Teile der Lunge häufig nicht mehr ausreichend belüftet werden, steigt unter anderem die Gefahr von Infektionen, welche die Lungenfunktion weiter einschränken können. Die Lungenliga Schweiz hat deshalb neben Kursen zur Entspannung, zum Krankheitsmanagement und zu Atemtechniken auch solche im Angebot, mit denen Betroffene trotz ihrer Erkrankung in Bewegung bleiben. Es ist ein Angebot, das sich nicht etwa an eine kleine Minderheit richtet: So sind in der Schweiz rund 400 000 Menschen alleine von der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung COPD betroffen, etwa 150 000 leiden unter Schlafapnoe, jedes zehnte Kind und jeder vierzehnte Erwachsene hat Asthma. Das zeigt: Für einen beträchtlichen Teil der Schweizer Bevölkerung ist eine normale Atmung, diese so simple wie überlebenswichtige Körperfunktion, keine Selbstverständlichkeit. //
EINFACHE ATEMÜBUNGEN FÜR DEN ALLTAG
Achtsame Atembeobachtung
Ziel: Die Übung schafft ein Bewusstsein für die Atmung und unterstützt das Körpergefühl.
Dauer: 3–8 Minuten
- Nehmen Sie eine bequeme Position ein (im Liegen oder Sitzen).
- Legen Sie eine Hand locker auf die Brust, die andere auf den Bauch.
- Schliessen Sie die Augen.
- Atmen Sie im eigenen Tempo durch die Nase ein und durch den Mund mit leicht geöffneten Lippen aus.
- Nehmen Sie den Atem einfach wahr, ohne ihn zu verändern.
- Spüren Sie der Atmung nach: Hebt sich beim Einatmen die obere Hand mehr oder die untere? Welche Körperteile werden vom Atem bewegt? Wo spüren Sie Fülle und Weite beim Einatmen, wo eine Entspannung beim Ausatmen?
Streckdehnung
Ziel: Den Brustkorb beweglicher machen. Diese Beweglichkeit ist wichtig, damit sich die Lunge leichter ausdehnen kann und die Atemmuskulatur weniger Kraft aufwenden muss.
Dauer: 6–10 Minuten
- Legen oder setzen Sie sich hin.
- Schieben Sie die rechte Hand zum rechten Knie und den linken Arm nach oben über den Kopf.
- Ihr Körper sollte ein «C» formen. Halten Sie diese Position 3–5 Minuten und atmen Sie tief ein und aus.
- Wechseln Sie die Seite.
Die 4-6-8-Methode
Ziel: Bei Stress atmen wir schneller. Durch die bewusste und langsame Atmung wird der Blutdruck gesenkt, der Körper schaltet auf Erholung um und der Stress wird abgebaut.
Dauer: 1–5 Minuten
- Legen oder setzen Sie sich bequem und entspannt hin und platzieren Sie eine Hand auf Ihren Bauch.
- Atmen Sie durch die Nase ein und zählen Sie dabei langsam bis vier.
- Halten Sie die Luft an, während Sie bis sechs zählen.
- Atmen Sie durch den Mund aus, während Sie langsam bis acht zählen.
- Wiederholen Sie die Übung mindestens fünf Mal, bis Ihr Atem ruhig und tief ist.
WEITERE INFORMATIONEN
- Das Wunder der Lunge; Kurzvideo der Lungenliga Schweiz auf Youtube
- Luft holen: Das Potenzial des Atems, SRF-Podcast
- Den Atem steuern – und mit ihm heilen; Beitrag im Geo-Magazin, Ausgabe 2/2017
- Lungenliga Schweiz: Mehr Luft fürs Leben
- The Global Impact of Respiratory Disease; WHO-Studie zu Atemwegserkrankungen (2017)