Hebammen sind vor allem rund um die Geburt gefragt. Doch ihre Kompetenzenreichen von der Familienplanung bis zur frühen Elternschaft. Eine längere Begleitung durch die Hebamme hätte vor allem für vulnerable Familien viele Vorteile, sagt Karin Brendel, Fachbereichsleiterin im Bachelorstudiengang Hebamme.
VON ANDREA SÖLDI
Frau Brendel, normalerweise kommt die Hebamme rund um die Geburt ins Spiel. Das Konzept Family Systems Care sieht vor, dass sie die Familien über eine längere Zeitspanne betreut. Suchen Hebammen neue Aufgaben, weil ihnen die Arbeit ausgeht?
Karin Brendel: Nein, natürlich nicht. Doch wir sind ausgebildet für die Begleitung von Paaren beginnend bei der Familienplanung über Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bis zur Stillzeit und frühen Elternschaft. Derzeit liegt unser Hauptarbeitsfeld im Bereich Geburt und Wochenbett. In der Schwangerenvorsorge arbeiten wir eher wenig. Doch es hat viele Vorteile, wenn wir auch vorher und nachher noch etwas stärker involviert werden.
Welche Vorteile sind das zum Beispiel?
Aktuelle Forschungen zeigen, dass die Zufriedenheit der Frauen steigt. Zudem kommt es zu weniger medizinischen Interventionen, wenn wir bereits präventiv tätig werden können, also noch bevor sich akute Probleme bemerkbar machen. Beim Ansatz der Family Systems Care soll mit der kontinuierlichen Begleitung durch die Hebamme die Selbstständigkeit der Frauen und ihrer Partner gefördert werden.
Wie konkret können Frauen während der Schwangerschaft vom Fachwissen einer Hebamme profitieren?
Eine relativ häufige Komplikation ist der Gestationsdiabetes. Durch eine gezielte Beratung in den Bereichen Ernährung und Bewegung können wir die Therapie unterstützen und gleichzeitig die Gesundheitskompetenzen der Frauen langfristig verbessern. Werden Schwangere ausschliesslich von einer Gynäkologin betreut, wie hierzulande üblich, ist die Zeit für eine eingehende Beratung häufig zu knapp.
Welches sind die Vorteile für Geburt und Wochenbett, wenn Hebammen die Frauen bereits kennen?
Auch hier zeigen Studien, dass es weniger oft zu Interventionen bei der Geburt wie etwa einer Periduralanästhesie kommt, wenn die Frauen während der Schwangerschaft kontinuierlich begleitet wurden. So werden auch Wochenbettdepressionen frühzeitig erkannt.
Wie können Hebammen mit einer Wochenbettdepression umgehen?
Zuerst einmal ist es wichtig, die Frauen und ihr Umfeld auf die mögliche psychische Erkrankung vorzubereiten. Sie sollten den Unterschied zwischen dem Baby-Blues – einem kurzen Stimmungstief aufgrund der Hormonumstellung – und einer ausgeprägten Depression kennen. So sind sie für erste Anzeichen sensibilisiert. Wenn die Hebamme bereits vorher eine Beziehung zur Frau aufbauen kann, wird auch sie eine sich anbahnende Wochenbettdepression besser erkennen – zum Beispiel wenn die werdende Mutter oft Befürchtungen äussert, der neuen Rolle nicht gewachsen zu sein. Zudem ist die Hemmschwelle, um die Probleme anzusprechen, tiefer und man kann schneller reagieren.
Was für Möglichkeiten haben Sie, wenn die Frau überfordert ist mit dem Baby?
Wir unterstützen die Frauen dabei, sich Hilfe zu organisieren – zum Beispiel von einer Psychologin, einem Psychiater, von Sozialpädagogen oder auch aus dem privaten Umfeld. Ein probates Mittel ist das sogenannte Genogramm. Dabei handelt es sich um eine grafische Darstellung der Familiensituation sowie des Umfelds. Es kann Betroffenen helfen, die Ressourcen im eigenen Verwandten- und Bekanntenkreis besser zu erkennen und unterstützende Personen in den Familienalltag miteinzubeziehen. Ein anderes wichtiges Instrument ist das Hebammen-Assessment.
Was ist ein Hebammen-Assessment?
Mit dem Fragebogen können wir gemeinsam mit der Familie Herausforderungen, Ressourcen und Ziele festhalten sowie ihnen Informationen zukommen lassen. Dies ermöglicht den werdenden Eltern, informierte Entscheidungen zu treffen. Das Ziel ist es, die Familien zu stärken. Am besten ist es, wenn das Assessment bereits vor der Geburt erstellt wird, aber es ist auch im Wochenbett noch möglich. Besonders wertvoll ist der Ansatz bei vulnerablen Familien.
Gibt es denn bereits Hebammen, die nach dem Family-Systems-Care-Ansatz arbeiten, oder ist das reines Wunschdenken?
Ursprünglich kommt das Modell aus Kanada. In der Schweiz gibt es Hebammen-Netzwerke wie etwa Familystart in Zürich und Basel, die sehr familienzentriert und ressourcenorientiert arbeiten. Das Angebot ist aber meist auf die Betreuung im Wochenbett beschränkt und richtet sich vor allem an vulnerable Familien.
Haben Sie selber entsprechende Erfahrungen gesammelt?
In meiner Ausbildung Anfang der 1990er-Jahre in Deutschland lag der Fokus noch stark auf der Geburt – einer sehr medikalisierten Geburt zudem. Doch kurz danach setzte – wie in der Schweiz auch – allmählich ein Umdenken ein. Die Spitalaufenthalte wurden kürzer, womit die Hebamme im Wochenbett eine grössere Rolle zu spielen begann. Später habe ich in Deutschland als freipraktizierende Hebamme gearbeitet und konnte die Familien umfassend über einen längeren Zeitraum betreuen. Zudem war ich von 2004 bis 2009 in den USA in einem Zentrum für schwangere Frauen im Teenager-Alter tätig und habe das Konzept namens Centering Pregnancy kennen gelernt. Da haben wir das Family-Systems-Care-Modell ebenfalls angewendet.
Was bedeutet Centering Pregnancy?
Die Idee ist aus der Not heraus entstanden: Eine amerikanische Hebamme stellte fest, dass sie mit den meisten Frauen immer wieder die gleichen Themen besprach. Deshalb begann sie, die Schwangerenvorsorge in der Gruppe anzubieten. Neben den Vorsorgekontrollen und der Wissensvermittlung wird damit der Austausch untereinander gefördert. Im neuen Therapie-, Trainings- und Beratungszentrum Thetriz wollen wir am Departement Gesundheit ebenfalls eine entsprechende Gruppe anbieten (siehe Zweittext).
Wieso hapert es in der Schweiz derzeit mit dem Family-System-Care-Ansatz?
Ich muss vorausschicken, dass die Gesundheitsversorgung in der Schweiz sehr gut ist im Vergleich mit anderen Ländern. Auch werdende Mütter erhalten rund um die Geburt eine gute Betreuung, wobei oft verschiedene Berufsgruppen involviert sind, die teilweise unterschiedliche Empfehlungen abgeben. In der Spitex-Pflege zum Beispiel wird der Ansatz aber bereits verschiedentlich angewendet. Und auch Hebammen, die ihn in der Aus- oder Weiterbildung kennengelernt haben, arbeiten entsprechend.
In der Schweiz gibt es auch allerorts kostenlose Mütter- und Väterberatungen, die nach der Zeit des Wochenbetts die Betreuung sehr kompetent übernehmen. Kommt es da nicht zu Doppelspurigkeiten, wenn die Hebammen in dieser Phase auch noch präsent sind?
Im Bereich nach der Geburt gibt es tatsächlich eine kleine Überschneidung. Es kann sein, dass deshalb auf der einen oder anderen Seite vereinzelt Verlustängste vorhanden sind. Doch es geht nicht darum, sich gegenseitig etwas wegzunehmen. Im Gegenteil: Wir streben eine gute interprofessionelle Zusammenarbeit an. Schon heute stellen diese Fachpersonen ihre Arbeit im Hebammen-Studiengang vor. Jede ausgebildete Hebamme weist die Familien auf das Angebot hin. Und es gibt Hebammen, die sich zur Mütter- und Väterberaterin weiterbilden und in diesem Bereich arbeiten.
Würden Family-System-Care-Hebammen das Gesundheitssystem finanziell stärker belasten?
Nein. Ich bin überzeugt, dass es für die Krankenkassen günstiger wäre, wenn wir mehr Präventionsarbeit leisten könnten. Doch die Finanzierung ist tatsächlich die Krux der Sache: Die Anzahl bezahlter Hausbesuche ist begrenzt. Zusätzliche Termine werden meist nur aus medizinischen, nicht aber aus sozialen Gründen bewilligt.
Was lernen die Studentinnen an der ZHAW über das Modell?
Im Bachelorstudiengang lernen die Studierenden das Modell kennen. Im Masterstudiengang sowie in den Weiterbildungen wird dieses Wissen vertieft und der Einsatz von In-strumenten wie Assessment und Genogramm geübt – zum Beispiel anhand von Simulationsklientinnen.
Was glauben Sie, wann wird sich der Family-System-Care-Ansatz in der Schweiz etablieren?
Die familienzentrierte und ressourcenstärkende Betreuung ist vielerorts bereits Realität. Es braucht nun noch mehr begleitende Forschung, um das Modell zu evaluieren und die Vorteile aufzuzeigen. Was die Ausdehnung der Hebammentätigkeit auf eine längere Zeitspanne betrifft, sind wir noch nicht so weit. Damit dies möglich wird, ist eine gute Absprache mit anderen Playern rund um Schwangerschaft und Geburt nötig – etwa Ärzte, Spitäler sowie Mütter- und Väterberatungen. Wir stehen mit vielen bereits in Kontakt und versuchen, eine gute Zusammenarbeit aufzugleisen. Indem wir die Idee bei den Studierenden anstossen, legen wir einen guten Boden. Veränderungen entstehen häufig über die Ausbildung. //
Zusammen schwanger sein
Im neuen Ambulatorium des Departements Gesundheit wagen sich Hebammen an neue Ideen: Eine Gruppe von Schwangeren geht zusammen den Weg bis zur Geburt.
Das neu bezogene Haus Adeline Favre bietet nicht nur den Studierenden und Dozierenden des Departements Gesundheit einen Mehrwert, sondern auch der Bevölkerung: Mit dem Therapie-, Trainings- und Beratungszentrum Thetriz erhält sie ein ambulantes Gesundheitszentrum, in dem sämtliche Institute ihre spezifischen Fachkenntnisse direkt anwenden. So spielen Lehre, Forschung und Behandlung unmittelbar zusammen.
Ein bisher einmaliges Angebot in der Schweiz ist die Schwangerenvorsorge in der Gruppe, die das Institut für Hebammen plant. Aktuell suchen die meisten werdenden Mütter für die medizinischen Checkups eine Arztpraxis auf und besuchen gleichzeitig einen Geburtsvorbereitungskurs, der von einer Hebamme geleitet wird. An der ZHAW will man nun die beiden Komponenten zusammenführen.
Erfahrungen austauschen
«Viele Frauen in dieser Situation beschäftigen sich mit ähnlichen Fragen», weiss Zentrumsleiterin Claudia Putscher, die selber lange als Hebamme tätig war. Gehe es etwa um den Umgang mit Übelkeit oder Wassereinlagerungen in den Beinen, könne ein Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen die Tipps der leitenden Hebamme ergänzen. Weitere Themen werden Ernährung, Schlafstörungen oder die Vorbereitung auf die Geburt sein.
Neben dem Gruppensetting wird jede Frau einen Moment alleine mit der Hebamme zur Verfügung haben. Dabei tastet die Hebamme den Bauch ab, um Lage und Wachstum des Ungeborenen zu beurteilen, und hört seine Herztöne ab. Bei Bedarf werden auch Blutanalysen durchgeführt. Weitere Kontrollen wie etwa Gewicht- und Blutdruckmessung sowie Urintests kann die Frau selber vornehmen. Einzig die Ultraschall-Untersuchungen – normalerweise zwei pro Schwangerschaft – finden weiterhin in einer Arztpraxis statt.
Studentinnen lernen ganz praktisch
Die Betreuung in der Gruppe soll etwa in der zwölften Schwangerschaftswoche beginnen und bis kurz vor der Geburt dauern. Vorgesehen sind sieben Treffen – gemäss der Anzahl Kontrollen, die von den Krankenkassen bezahlt werden. Wertvoll für die Frauen in dieser speziellen Situation ist auch die Möglichkeit, während des Kurses untereinander Kontakte zu knüpfen, die vielleicht sogar über die Schwangerschaft hinausgehen. Wie bei den meisten Angeboten im Thetriz werden auch bei der Schwangerengruppe Studierende beteiligt sein. So erleben sie die Freuden, aber auch Leiden und Ängste der werdenden Mütter unmittelbar und können ihre neu erworbenen Fachkenntnisse direkt anwenden. //
Hinweis: Die erste Gruppe ist auf Mitte Januar 2021 geplant. Sollte sich die Corona-Situation bis dann wieder verschärfen, könnte ein Teil der Treffen online stattfinden.
Weitere Informationen
- Fachartikel im «Journal of Familiy Nursing»: Implementing Family Systems Care Through an Educational Intervention With Nurses and Midwives in Obstetrics and Gynecological Care: A Mixed-Methods Evaluation (Englisch)
- Was ist «Centering Pregnancy» – Schwangerenvorsorge in der Gruppe?
- Das Therapie-, Trainings- und Beratungszentrum Thetriz am Departement Gesundheit
- Wikipedia: Genogramm – Familiäre Beziehungen grafisch darstellen