Daniel Rickenbacher lebt seit seiner Geburt mit Cerebralparase. Dadurch ist seine Lautsprache stark eingeschränkt. Um dennoch mit seinen Mitmenschen kommunizieren zu können, nutzt er sein Smartphone. Dieses ist für ihn weit mehr als ein technologisches Hilfsmittel: Es schenkt ihm Freiheit und Selbstbestimmung.
von Marion Loher
Er klappt das Smartphone auf und tippt etwas hinein. Eine Stimme fragt: «Zum See?» Zum See. Routiniert steuert Daniel Rickenbacher seinen Elektrorollstuhl vom Luzerner Hauptbahnhof in Richtung Vierwaldstättersee; vorbei am bekannten Kultur- und Kongresszentrum KKL, an mehreren Holzhäuschen, die zum Lunapark der «Lozärner Määs» gehören, sowie zahlreichen Menschen, die an diesem späten Nachmittag entlang des Seeufers flanieren und die herbstliche Sonne geniessen. Nach ein paar hundert Metern stoppt Daniel Rickenbacher seine Fahrt. Er platziert sich so, dass seine Gegenüber auf dem Ufermäuerchen sitzen können. Der 31-Jährige zieht sein Jackett aus und klappt die Hülle seines Smartphones, das am Elektrorollstuhl befestigt ist, wieder auf.
Daniel Rickenbacher ist einer von rund 12 000 Erwachsenen in der Schweiz, die mit einer Cerebralparese leben. Sein Gehirn hat aufgrund eines Sauerstoffmangels bei der Geburt Schäden genommen, was zu motorischen und sprachlichen Einschränkungen führt. Er hat Spastik, deshalb kann er seinen Körper nicht immer so kontrolliert bewegen, wie er möchte. Seine Lautsprache, Mimik und Gestik sind für Menschen, die ihn gut kennen, verständlich. Schwieriger ist es für jene, die ihn weniger gut kennen oder das erste Mal treffen. Mit ihnen kann Daniel Rickenbacher mithilfe des Smartphones kommunizieren.
Mehr Freiheit dank Technik
Was bedeutet das Gerät für ihn? Der junge Mann tippt die Antwort ein. «Es ist meine Stimme», ertönt es aus dem Lautsprecher. «Dank des Smartphones ist es mir möglich, mich überall und jederzeit mit Menschen zu unterhalten.» Ein Gespräch mit ihm kann einige Zeit in Anspruch nehmen, da er das, was er sagen möchte, eintippen muss. Zwar ist er mit der Wortvorhersage sehr schnell, dennoch erfordert es Geduld von seinen Mitmenschen.
In einem früheren Interview mit der Paraplegiker-Stiftung sagte er dazu: «Ich muss spüren, ob mein Gegenüber für so eine Unterhaltung Zeit hat.» In unserer schnelllebigen Welt sei das eine Herausforderung. «Ich denke aber, dass es den Menschen guttut, wenn sie einmal eine langsamere Form der Kommunikation erleben.»
Früher hat Daniel Rickenbacher jahrelang über einen Talker, ein speziell konfiguriertes Tablet, kommuniziert. Dieses war ebenfalls am Elektrorollstuhl befestigt und gab Tasteneingaben akustisch als Sätze wieder. Dabei speicherte er häufig verwendete Wörter als Bildkombinationen ab, damit er nicht jeden Buchstaben einzeln eingeben musste. Dadurch konnte er viel Zeit sparen. Mittlerweile benutzt er den Talker nicht mehr. «Ich habe gemerkt, dass ich mit dem Smartphone schneller bin und mir dadurch vieles einfacher gemacht wird.» Nebst dem Elektrorollstuhl, mit dessen Joystick er auch die PC-Maus steuern kann, ist das Smartphone sein wichtigstes Hilfsmittel. Mit ihm kann er nicht nur kommunizieren und Texte, ja sogar ganze Referate schreiben, sondern zu Hause über entsprechende Apps die Kaffeemaschine, den Fernseher, Türen und Lampen bedienen. Das gibt ihm ein grosses Stück Freiheit – und das ist dem jungen Mann enorm wichtig. «Mit dem Smartphone und all seinen Funktionen habe ich die Spitze der Unterstützten Kommunikation erreicht. Das ermöglicht mir ein selbstbestimmtes Leben, wie ich es mir immer gewünscht habe.»
Botschafter und Referent
Daniel Rickenbacher ist in Illgau im Kanton Schwyz aufgewachsen, wo er mit Unterstützung die Primarschule besuchte. Danach lebte er während zwölf Jahren in einer Institution. Während dieser Zeit wurde er zu einer IV-Tagung eingeladen mit der Bitte, über seine Erfahrungen und Hilfsmittel zu berichten. Daraus entwickelte sich immer mehr, wie etwa die Mister-Handicap-Kandidatur 2014. Er gewann an Aufmerksamkeit und nutzte diese, um auf privater Basis über Unterstützte Kommunikation (UK, siehe Zweittext) und sein Leben mit einer Beeinträchtigung zu sprechen. 2019 wurde er Botschafter von Active Communication, einem Unternehmen der Schweizer Paraplegiker-Gruppe, das sich für individuelle Lösungen für Menschen mit Beeinträchtigung einsetzt.
Von 2020 bis August 2024 arbeitete er in einem 20-Prozent-Pensum im Marketingteam von Active Communication. Er hielt Referate, gab Weiterbildungen und betrieb einen Blog. In seinen Artikeln waren die Themen Inklusion, Selbstbestimmung und Partizipation zentral. So berichtete er beispielsweise über seine verschiedenen Kongressbesuche, seine Erfahrungen im öffentlichen Verkehr und bei Flugreisen oder testete Alltagshilfen und Bekleidung auf ihre Funktionalität. Er traf aber auch Persönlichkeiten wie den Mitte-Politiker Martin Candinas, Nationalratspräsident 2023, oder Fernsehmoderator Nik Hartmann, dessen jüngster Sohn ebenfalls mit einer Beeinträchtigung lebt. Der Artikel über das Treffen mit Hartmann war der letzte für seinen Blog. «Ich habe aus freiem Wunsch die Arbeitsstelle verlassen, und der Blog war ein Teil dieser Arbeit», schreibt er in sein Smartphone. Künftig möchte er sich auf seine Selbstständigkeit und sein Unternehmen konzentrieren – denn Daniel Rickenbacher ist auch Arbeitgeber.
Er organisiert sein Team selbst
Der 31-Jährige wohnt in Alpnach Dorf, einer kleinen Gemeinde etwa 20 Zugminuten von Luzern entfernt, in einer eigenen Wohnung. Er habe auch schon in der Stadt gelebt, aber auf dem Land gefalle es ihm besser. «Jetzt habe ich nicht mehr nur einen, sondern zwei Seen vor meiner Haustür», tönt es aus dem Lautsprecher und Daniel Rickenbacher lacht. Bei seinem selbstständigen Wohnen wird er von Assistenzpersonen unterstützt. Das macht ihn zum Arbeitgeber. Er organisiert sein Team von Assistierenden allein, macht von der Arbeitsplanung bis zur Lohnzahlung alles selbst. Das ist aufwendig und anspruchsvoll. Doch ihm sei wichtig, ein guter Arbeitgeber zu sein, sagt Rickenbacher.
Ein weiteres Projekt, das er vorantreiben möchte, ist an seinem Buch weiterzuarbeiten. Zunächst aber werde er seine Energie in den Aufbau neuer Aufgaben stecken. Für die Zukunft wünscht sich Daniel Rickenbacher, der die Selbstbestimmung bis zur Grenze seiner Beeinträchtigung lebt: «Die bedingungslose Inklusion und Teilhabe auf allen Ebenen für Menschen mit einer Beeinträchtigung.» Und dafür werde er sich auch in Zukunft einsetzen – Tag für Tag. //
Das Wissen aufbauen, um Barrieren abzubauen
Menschen, die wie Daniel Rickenbacher eine eingeschränkte oder fehlende Lautsprache haben, benutzen Hilfsmittel, um zu kommunizieren. Die Geräte zur sogenannten Unterstützten Kommunikation (UK) werden von Fachpersonen verordnet, die auch bei der Anwendung beratend zur Seite stehen. Während der Schulzeit erhalten die Menschen, die unterstützt kommunizieren, oft ausreichend Begleitung. Doch wie sieht es beim Übergang von der Schule in die Ausbildung oder von der Ausbildung ins Berufsleben aus? Mit diesen Fragen haben sich das Institute of Language Competence und das Institut für Ergotherapie der ZHAW im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprojekts beschäftigt, an dem auch Daniel Rickenbacher als Begleitgruppenmitglied beteiligt war.
«Gerade beim Einstieg ins Berufsleben ändern sich viele Bedürfnisse», sagt Martina Spiess vom Institut für Ergotherapie und Mitglied des Projektteams. «Mit der Studie wollten wir herausfinden, welche Erfahrungen und Anliegen Menschen haben, die unterstützt kommunizieren.» Das Forschungsprojekt dauerte von Herbst 2020 bis Herbst 2023 und wurde vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) unterstützt. Geleitet wurde es von Christiane Hohenstein, Professorin für Interkulturalität und Sprachdiversität am Institute of Language Competence, und Brigitte Gantschnig, Professorin für Evaluation und Assessment am Institut für Ergotherapie.
In einem ersten Teil wurden sieben Nutzer:innen multimodaler Kommunikationsformen interviewt. «Wir haben sie vor allem nach ihren Erlebnissen befragt, die sie beim Wechsel von der obligatorischen Schule in eine Ausbildung oder höhere Schule oder von der Ausbildung ins Berufsleben hatten», erklärt Martina Spiess. «Dabei stellte sich heraus, dass diese Menschen oft mit Barrieren in ihrer Umwelt konfrontiert waren.» Eine solche Barriere waren beispielsweise Fachpersonen, die kaum Kenntnisse von diesen Kommunikationsformen hatten. «Ihnen fehlte dadurch das Verständnis für das, was diese Menschen können oder auch nicht, und dies führte wiederum zu falschen Annahmen und Platzierungen.» Die meisten Befragungsteilnehmenden fühlten sich diesbezüglich nicht ernst genommen und sagten, sie hätten zu wenig Mitspracherecht gehabt. «Sie waren nicht zufrieden mit der beruflichen Situation, in der sie steckten», so die Wissenschaftlerin. «Trotzdem schafften es die meisten, sich aus dieser Situation zu befreien. Dies aber vor allem dank grosser Eigeninitiative.»
Auch als Erwachsene gehört werden
Der zweite Teil des Forschungsprojekts bestand aus einer Umfrage, die bei drei verschiedenen Gruppen durchgeführt worden war: bei den Nutzer:innen von UK, den betreuenden Angehörigen und den Fachpersonen. «Die Ergebnisse der Umfrage bestätigten die Resultate aus den Interviews», sagt Martina Spiess. Für sie und ihr Projektteam ist diese Forschungsarbeit von grosser Bedeutung, da es bislang nur wenig qualitative und quantitative Studien zur Unterstützten Kommunikation in dieser Lebensphase gibt. «Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass die Menschen, die unterstützt kommunizieren, auch beim Übertritt ins Berufsleben Unterstützung benötigen, damit sie auch als Erwachsene gehört werden.» Fachpersonen müssten deshalb künftig noch besser in diese Richtung geschult werden. //