Erstaunlich viele junge Menschen gehen wegen Inkontinenz in die Beckenboden-Physiotherapie. Mit Fingerspitzengefühl kümmern sich die Therapeut:innen um dieses schambehaftete Thema.
von Andrea Söldi
Kaum etwas ist uns peinlicher, als wenn wir unsere Ausscheidungen nicht kontrollieren können. Urin und seltener auch Stuhlinkontinenz ist jedoch häufiger als gedacht. Sie kommt nicht nur bei betagten Menschen, Frauen nach der Geburt oder Männern nach einer Prostata-Operation vor, sondern auch bei jüngeren Personen. Gemäss einer in Deutschland durchgeführten Umfrage von 2005 sind gut sechs Prozent der unter 40-Jährigen – Kleinkinder ausgenommen – gelegentlich betroffen. Am Beckenbodenzentrum des Kantonsspitals Winterthur ist der Andrang deshalb gross.
Beckenboden-Physiotherapeutin Barbara Zwimpfer kann sich zum Beispiel an einen 17-jährigen Gymnasiasten erinnern, der bei Auto- oder Busfahrten manchmal einen so extremen Harndrang verspürte, dass er sich einnässte, wenn sich nicht sofort eine Toilette fand. Eine weitere Patientin verlor Urin beim Lachen. Derweil erzählt ihre Kollegin Sibylle Früh von einem professionellen Blasmusiker, dem hin und wieder beim Musikmachen ein Malheur passierte, weil der hohe Druck im Bauch über längere Zeit den Verschlussmechanismus schwächte. Auch bei jungen Volleyballerinnen oder Frauen, die einen anderen Sport mit vielen Sprüngen ausüben, gehen manchmal einige Tropfen in die Hose.
Durch schwierige Geburt sensibilisiert
Barbara Zwimpfer und Sibylle Früh unterrichten beide im Modul «Urogenital» des Studiengangs Physiotherapie an der ZHAW. Zusätzlich zur Physiotherapie-Ausbildung haben sie in Interlaken den Master of Science in Pelvic Physiotherapy der niederländischen Physiotherapie-Universität SOMT erworben – Pelvic bedeutet Becken. «Nach der Geburt meiner Tochter habe ich selber Beckenboden-Physiotherapie gemacht und war verblüfft über die Wirkung», erzählt Sibylle Früh. Dies motivierte die 45-Jährige für die Spezialisierung. Auch bei Barbara Zwimpfer war es eine schwierige Geburt, die sie auf das Thema aufmerksam machte. In ihrer Ausbildung Anfang der 1980er-Jahre sei der Beckenboden kein einziges Mal erwähnt worden, erinnert sich die 63-Jährige. «Dabei sind diese Muskeln elementar für so wichtige Funktionen wie Ausscheidung, Sexualität und Geburt.»
Behutsam vorgehen
An die Behandlung dieser intimen Körperregion haben sich die beiden aber zuerst gewöhnen müssen. «Das ist definitiv anders als eine Knie-Physio», stellt Zwimpfer klar. Besonders Männer aus anderen Kulturkreisen hätten oft Mühe, sich von Frauen im Intimbereich untersuchen zu lassen. «Man muss zuerst Vertrauen aufbauen.» Um die Scham bei ihren Patient:innen abzubauen, erklärt Zwimpfer stets, was sie gerade macht, und deckt viele Körperteile mit einem Tuch ab.
Die Berührungen im Intimbereich würden oft viel auslösen – etwa bei Frauen mit negativen sexuellen Erfahrungen. «Manche beginnen zu weinen», sagt Früh. Die einfühlsame Behandlung dieser Menschen brauche viel Energie. Sie achtet konsequent auf eine professionelle Beziehungsgestaltung und bleibt stets beim Sie. «Und bei anzüglichen Sprüchen grenze ich mich rigoros ab.»
Verschluss stärken
Es gibt verschiedene Formen von Urin-Inkontinenz. Am häufigsten ist die Belastungsinkontinenz: Urin tritt wegen eines ungenügenden Verschlusses der Harnröhre unkontrolliert aus – etwa beim Tragen und Heben von Lasten, aber auch beim Niesen und Husten. Risikofaktoren sind Schwangerschaft, Übergewicht und das Alter.
Bei einer Dranginkontinenz oder Reizblase dagegen müssen Betroffene plötzlich sehr dringend auf die Toilette, weil die Regulation des Blasenmuskels gestört ist. Manchmal reicht die Zeit nicht. Darüber hinaus sind auch Mischformen nicht selten. Die Therapie richtet sich nach der Form und Ursache. Als erstes untersuchen Beckenboden-Physiotherapeutinnen – Männer gibt es nur sehr wenige in diesem Beruf – stets die Muskelfunktion auf rektalem oder vaginalem Weg. So stellen sie fest, wie es um die Kraft, Ausdauer und Entspannungsfähigkeit steht. Ob nach dem Wasserlassen Resturin in der Blase zurückbleibt, überprüfen sie mit einem Ultraschall. Zudem erklären sie ihren Patient:innen die Anatomie des weiblichen oder männlichen Beckens anhand von Körpermodellen sowie die Vorgänge beim Wasserlassen oder Stuhlen.
Beim Einüben des Beckenbodentrainings kommen auch Biofeedbacksonden zum Einsatz, die vaginal oder rektal eingeführt werden. Sie zeigen, welche Teile des Beckenbodens gerade aktiv sind und welche unbeteiligt bleiben. Funktioniert diese Aktivierung nicht, können die Muskeln mittels Elektrostimulation angeregt werden.
Viele profitieren von besseren Therapien
Bei einer Reizblase empfiehlt sich ein Tagebuch, in dem Trink- und Urinmenge sowie Anzahl Toilettengänge aufgezeichnet werden. Dies bildet die Grundlage für ein Blasentraining. Hilfreich sind manchmal auch Medikamente oder Botox-Spritzen, welche die Blase beruhigen. «Es gibt inzwischen viel bessere Therapien und Medikamente mit weniger Nebenwirkungen als früher», sagt Susanne Reichert, Urologin an der Praxis Uroviva in Bülach. Deshalb habe wohl auch die Nachfrage zugenommen. «Die Leute wollen Blasenprobleme nicht mehr einfach hinnehmen und überwinden ihre Scham häufiger als früher.»
Manche Betroffene kommen nur wenige Male in die Therapie und führen nach der Untersuchung das Training selbständig durch. Andere benötigen mehrere Monate, bis eine Besserung eintritt. Am Kantonsspital Winterthur arbeiten verschiedene Gesundheitsfachpersonen zusammen und bringen ihr jeweiliges Fachwissen ein. Viele Patient:innen würden stark unter ihrer Inkontinenz leiden, weiss Physiotherapeutin Barbara Zwimpfer. «Umso dankbarer sind sie, wenn wir genau hinschauen und offen mit ihnen über ihre Probleme reden.» //