Hebamme, Ergotherapeut, Ärztin, Pflegefachmann: Die Rollen innerhalb des Gesundheitswesens haben sich in der Vergangenheit immer wieder verschoben, vermischt und neuen Gegebenheiten angepasst. An welchem Punkt stehen wir heute? Wo werden starre Berufsbilder aufgelöst und neue Profile entwickelt – etwa um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken und die integrierte Versorgung zu fördern? In Teil drei berichtet Svenja Delacour-Isler, freipraktizierende Hebamme in der Bretagne mit einem Master in Gynäkologie.
AUFGEZEICHNET VON RITA ZIEGLER
Svenja Delacour-Isler, freipraktizierende Hebamme in der Bretagne
Dipl. Hebamme, Master in Gynäkologie
Dass ich vor fünf Jahren eine Hebammenpraxis übernehmen konnte, ist der grosse Glücksfall meines bisherigen Lebens in Frankreich. Mein Mann ist Franzose. Nach einigen Jahren Fernbeziehung während des Studiums an der ZHAW habe ich mich entschlossen, in die Bretagne zu ziehen und das letzte grosse Praktikum dort zu absolvieren. Es war schrecklich. Die Hebammen im Spital sind schlecht bezahlt, erhalten oft erst nach Jahren eine Festanstellung und stehen weit unten in der Hierarchie. Die Geburtssäle gleichen in Sachen Nüchternheit Operationssälen und der Geburtsprozess ist stark medikalisiert – PDAs sind eine Selbstverständlichkeit. Das war wirklich ein Problem, denn ich wollte unbedingt als Hebamme arbeiten, aber nicht unter diesen Bedingungen.
Nach dem Bachelorabschluss habe ich deshalb sämtlichen freischaffenden Hebammen in der Region geschrieben, dass ich gerne Mutterschafts- oder Ferienvertretungen übernehmen würde. Bei mir gemeldet hat sich unter anderen eine Hebamme, die eine Nachfolgelösung für ihre auf Beckenbodenrehabilitation spezialisierte Praxis suchte. Ich war baff. Gerade fertig ausgebildet, erst ein paar Monate in Frankreich, unvertraut mit den ganzen Krankenkassenfragen: eine Riesenchance und zugleich eine enorme Herausforderung. Ich konnte diese Hebamme dann fast drei Monate lang bei der Arbeit begleiten, alle Klientinnen und den ganzen Papierkram Schritt für Schritt kennenlernen. Gleichzeitig habe ich eine Zusatzausbildung in Beckenbodenrückbildung gemacht. Im Januar 2013 übernahm ich die Praxis und seither ist mein Klientinnenstamm stets gewachsen. Heute betreue ich Frauen in jedem Alter: vom 11-jährigen Mädchen, das wegen starken Regelschmerzen zu mir kommt, bis zur 94-jährigen Frau mit Urininkontinenz.
Ich decke das ganze Hebammenspektrum ab, mit Ausnahme der Geburten – leider. In der Bretagne existiert das Belegshebammensystem nicht und Hausgeburten gibt es kaum. Sonst mache ich aber alles: von der Schwangerschaftsbetreuung und Geburtsvorbereitung über die Begleitung im Wochenbett, Stillkonsultationen, Gewichtsüberprü- fung beim Säugling bis hin zur Rückbildung. Letztere ist in Frankreich sehr fortschrittlich und nicht wie in der Schweiz im gymnastischen Bereich angesiedelt. Wir trainieren die Beckenbodenmuskulatur mit Elektrostimulation oder manuell.
Daneben biete ich die ganze gynäkologische Palette an. Das ist seit einigen Jahren möglich, weil es in Frankreich zu wenig Gynäkologen gibt. Das heisst, ich mache Unterleibsuntersuchungen, Krebsabstriche und beurteile die Resultate. Ich leite die Frauen bei Selbstuntersuchungen der Brust an, berate zu Verhütungsfragen, setze Spiralen ein oder operiere Hormonstäbchen aus dem Oberarm heraus. Auch Mammografien oder Ultraschalluntersuchungen kann ich anordnen, wenn ich ein verdächtiges Knötchen in der Brust ertaste. Kommen gute Resultate zurück, muss die Frau gar nie zum Arzt. Sonst verweise ich sie weiter. Das gilt grundsätzlich: Ich betreue die Frauen, solange sie gesund sind. Zeigt sich eine pathologische Entwicklung, kommt der Arzt ins Spiel. Ich muss also in der Lage sein, zu erkennen, wenn etwas nicht stimmt. Bei Unsicherheiten hole ich auch mal eine Zweitmeinung ein. Mit entsprechender Ausbildung dürfte ich auch Ultraschalluntersuchungen in der Schwangerschaft durchführen, allerdings braucht es dafür eine sehr regelmässige Praxis; nicht nur um das teure Gerät zu amortisieren, sondern auch um den Blick zu schulen. Seit Kurzem können wir zudem medikamentöse Abtreibungen vornehmen, wenn dafür ein Vertrag mit einem Spital besteht.
Ja, als freischaffende Hebamme hat man in Frankreich viele Kompetenzen. Das bedeutet aber auch eine grosse Verantwortung. Deshalb habe ich mich 2013 entschlossen, an der Universität in Nantes einen Master in Gynäkologie zu machen: ein Programm konzipiert für Hebammen und Allgemeinmediziner. Das war äusserst wertvoll. Wir Hebammen sind ja stark auf die Geschlechtsorgane fokussiert und suchen Ursachen für Probleme auch oft da. Im Austausch mit meinen ärztlichen Mitstudentinnen habe ich nochmals neu gelernt, darüber hinaus zu denken und die Gesundheit der Frauen ganzheitlicher zu sehen. Was ich als Nächstes in Angriff nehmen möchte? Das IBCLC-Examen. Das ist ein grosses, weltweit anerkanntes Diplom für Still- und Laktationsberaterinnen. So schnell ausgelernt habe ich wohl nicht. //
«Vitamin G», Seite 17
WEITERE INFORMATIONEN
- «Zwischen Hebammen-Beruf und Gynäkologie», Porträt Svenja Delacour-Isler, ZHAW Impact, S.22-23
- Film «So ist der Masterstudiengang Hebamme», ZHAW Gesundheit
- Master Hebamme, ZHAW Gesundheit