Traumatisierte Menschen behandeln

Plötzliche Angstzustände in der Therapie oder schwieriges Verhalten in der Schule: Geflüchtete Menschen leiden oft unter schmerzhaften Erlebnissen. Drei Gesundheitsfachfrauen erzählen von ihren Erfahrungen nd erläutern, was es bei einem Verdacht auf eine Traumatisierung zu beachten gilt.

von Andrea Söldi

Beim ersten Termin wollte der Patient sein Hemd nicht ausziehen. Brigitte Fiechter untersuchte seinen Rücken deshalb durch das Kleidungsstück hindurch. Erst nach einigen weiteren Behandlungen war er schliesslich bereit, seinen Oberkörper frei zu machen. Trotz genauer Aufklärung sei der Mann plötzlich ganz steif und blass geworden, habe geschwitzt und rasend schnell geatmet, erinnert sich die Physiotherapeutin. Später habe er ihr von seinem Gefängnisaufenthalt in einem Kurdengebiet erzählt. Beim Hofgang hätten die Wärter die Gefangenen manchmal ohne Vorwarnung von hinten auf den Rücken geschlagen. In der Physiotherapie habe er wohl ein Flashback erlebt, glaubt Fiechter.

Die Episode ist eines von vielen Beispielen, die die ZHAW-Dozentin Studierenden in der interprofessionellen Themenwoche «Krisen & Coping» schildert, die im 5. Semester stattfindet. Dabei bereiten sich angehende Physiotherapeuten, Ergotherapeutinnen, Pflegefachpersonen und Hebammen darauf vor, Traumatisierungen von geflüchteten und anderen Menschen frühzeitig zu erkennen, aber in ihrer Rolle auch die Grenzen wahrzunehmen. «Eine rasche Identifizierung und Behandlung von Traumata hilft, Chronifizierungen und Folgeerkrankungen zu vermeiden», erklärt Fiechter. Internationale Studien legen nahe, dass bis zur Hälfte der geflüchteten Menschen durch Folter- und Kriegserfahrungen traumatisiert sind.

Brigitte Fiechter kann auf einen breiten Erfahrungsschatz zurückgreifen. Als Physiotherapeutin hat sie diverse Einsätze beim Internationalen Roten Kreuz geleistet, unter anderem in Ruanda, Nepal und Nordindien. Zum Beispiel hat sie Kinder mit amputierten Beinen oder Armen therapiert. Vor 20 Jahren war sie am Aufbau des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer am Universitätsspital Zürich beteiligt. Zusammen mit zwei Bewegungstherapeutinnen schrieb sie ein Kapitel für das interdisziplinäre Standardwerk «Trauma – Flucht – Asyl». Und auch aus ihrer langjährigen Praxistätigkeit kann die 64-jährige zahlreiche Begebenheiten weitergeben.

Fremd im eigenen Körper

Bei traumatisierten Flüchtlingen sind Schmerzen allgegenwärtig und häufig Anlass für eine ärztliche Konsultation oder eine physiotherapeutische Behandlung. Gleichzeitig sind viele nicht vertraut mit unseren westlichen Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen Körper und Psyche. Sie gehen mit der Erwartung in die Therapie, das Problem mittels somatischer Behandlungsansätze lösen zu können. Die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen verstärkt diese Sichtweise. Der Zugang über den Körper bietet aber auch eine Chance, die Betroffenen bei den Beschwerden abzuholen, die für sie im Vordergrund stehen.

Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass sich traumatisierte Menschen meist fremd fühlen in ihrem Körper und kaum mehr einen positiven Bezug zu ihm haben. Denn er wurde beschämt und gedemütigt. Bei manchen haben Folter und Misshandlungen bleibende Schäden hinterlassen – etwa eine Überdehnung der Faszien und Schultergelenke durch Aufhängen an den Armen oder Verbrennungen durch Zigaretten oder Strom.

Entdecken Gesundheitsfachpersonen entsprechende Hinweise, sollten sie sehr behutsam danach fragen. Einige Patient:innen wollen nicht darüber sprechen, während andere möglicherweise ausführlich zu erzählen beginnen. Bei grosser Not oder Verdacht auf Suizidalität sei eine Rücksprache mit dem Arzt oder der Ärztin erforderlich, so Brigitte Fiechter. Den Patienten, der in der Physiotherapie ein Flashback erlebte, hat sie damals wieder zurück in die Gegenwart holen können. «Oft hilft es, den Namen auszusprechen, das Fenster zu öffnen und Betroffene aufzufordern, den Boden unter den Füssen zu spüren und gut durchzuatmen», erklärt die Therapeutin. In einem Nachgespräch könne man dem Auslöser nachgehen.

Mit einfachen Mitteln helfen

Viel Erfahrung mit geflüchteten Menschen hat auch Mirja Brunner. Die Psychiatriepflegefachfrau arbeitet im Medbase Gesundheitszentrum in Winterthur, das einen Versorgungsauftrag für das Bundesasylzentrum in Embrach hat. Viele Asylsuchende hätten auf der Flucht Polizeigewalt und sexuelle Übergriffe erlebt oder seien ohne Essen festgehalten worden, weiss Brunner. Die beengten Verhältnisse im Asylheim, die fehlende Privatsphäre und die Angst, zurückgeschickt zu werden, seien sehr belastend.

«Ich sehe meine Rolle in der Stabilisierung ihrer aktuellen Situation», erklärt Brunner. In Zusammenarbeit mit Dolmetscher:innen bespricht sie mit den Asylsuchenden, wie sie ihren Alltag bewältigen können. Zum Beispiel rät sie ihnen, sich regelmässig zu bewegen und zeigt ihnen Beruhigungsstrategien wie Atemübungen. Weist eine Person selbstverletzende Tendenzen auf, wie etwa den Kopf gegen die Wand schlagen, vermittelt die Psychiatriepflegefachfrau Skills und Übungen. Etwa, sich mit einem Gummiband zu zwicken, um sich besser zu spüren, aber nicht zu verletzen.

Vor ihrer Anstellung im Gesundheitszentrum hat Brunner in einem Gefängnis gearbeitet, wo ebenfalls viele Insassen einen Migrationshintergrund haben. «Trotz eingeschränkter Möglichkeiten will ich einen Beitrag leisten, dass sich diese Menschen etwas wohler fühlen», sagt Brunner, die zurzeit an der Fachhochschule Bern einen Master als Psychiatric Mental Health Nurse Practitioner erwirbt. «Für Geflüchtete ist es viel wert, wenn ihnen eine neutrale Person zuhört, die keinen Einfluss auf das Asylverfahren hat.»

Ergotherapie für geflüchtete Schulkinder

Auch Kim Roos engagiert sich seit vielen Jahren für Jugendliche mit Fluchterfahrungen. Die Ergotherapie-Dozentin hat 2019 zusammen mit anderen Ergotherapeutinnen der ZHAW an einer Schule mit Flüchtlingskindern gearbeitet. Das Ziel war, die Partizipation im Unterricht sowie die Lebensqualität zu verbessern. «Viele dieser Mädchen und Jungen wirken traumatisiert», sagt Roos. Häufig seien zum Beispiel das Vertrauen in die Mitmenschen und die Konzentrationsfähigkeit reduziert. Zudem benötige die Angewöhnung an die neue Kultur viel Energie. «Der ergotherapeutische Ansatz stärkt das Selbstwertgefühl über das eigenständige Handeln.»

Bei den Gruppeninterventionen entschieden die Kinder selbst, welche Aktivitäten sie in Angriff nehmen wollten und planten diese von A bis Z selbst. Als sie zum Beispiel einen eigenen Slime herstellten, suchten sie zuerst nach einer Anleitung und beschafften sich danach das nötige Material. Nach einigen Anläufen entstand ein brauchbares Spielzeug, was die Kinder mit Stolz erfüllte.

Im Anschluss an dieses Pilotprojekt unter der Leitung von Prof. Brigitte Gantschnig schreibt Kim Roos nun eine Dissertation über das Thema. Dafür hat sie Lehrpersonen an verschiedenen Schulen zu ihren Erfahrungen mit geflüchteten Kindern befragt und mit Familien in Kollektivunterkünften gesprochen. So will sie ein evidenzbasiertes Behandlungskonzept für Schweizer Schulen entwickeln, das anschliessend in der Praxis evaluiert werden soll. «Die Traumatisierungen sowie die schwierigen Lebensumstände in der Schweiz werden in der Schule zu wenig beachtet», findet Roos. «Wie kann ein Kind stillsitzen, aufmerksam und freundlich sein, wenn es in einer beengten Asylunterkunft wohnt, die Sorgen der Familie spürt und nicht weiss, ob es in der Schweiz bleiben darf?», fragt sie rhetorisch.

Schlechte Noten frustrieren

Unter welchem Druck Kinder mit Fluchterfahrungen stehen, hat Roos bei ihrem afghanischen Pflegesohn Ali Shah Isai hautnah erlebt. «Trotz grosser Anstrengungen hatte er immer wieder schlechte Noten», erzählt die 49-Jährige. «Dies nagte an seiner Würde und gab ihm das Gefühl, es sowieso nie zu schaffen.» Kleine Aufmerksamkeiten wie etwa eine Ergänzung im Zeugnis, dass er fliessend Persisch sprechen und schreiben kann, hätten viel geholfen, um die Scham und den Stress zu reduzieren, glaubt die Pflegemutter. «Wir haben ihn getröstet und motiviert, damit er nicht aufgibt.»

Die Familie Roos hatte sich ursprünglich als Patenfamilie für unbegleitete minderjährige Asylsuchende zur Verfügung gestellt. Daraus entstand die Idee, den ihnen zugeteilten Jungen ganz bei sich aufzunehmen. Der damals 13-Jährige sei zuerst nicht vollends begeistert gewesen, erzählt Roos, habe sich dann aber darauf eingelassen. Ihr gleichaltriger Sohn und die etwas jüngere Tochter begrüssten den Familienzuwachs trotz gelegentlicher Reibereien. «Die Erfahrung hat uns allen bewusst gemacht, wie privilegiert wir sind», blickt Kim Roos zurück. Sie bewundere ihren Pflegesohn dafür, dass er trotz zahlreicher Hürden einen Schulabschluss und eine Berufslehre als Dentalassistent geschafft hat. Für sie ist klar: «Eine gute Unterstützung erleichtert die Integration.» //

Vitamin G, S. 20-22


Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


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