Damit Schulden nicht zur Last werden

Menschen, die wenig Geld haben und nicht wissen, wie sie ihre Rechnungen bezahlen
sollen, schämen sich oft. Die Schuldenprävention der Stadt Zürich versucht zu verhindern, dass sie in eine Überschuldung geraten, aus der sie kaum mehr herausfinden.

von Andrea Söldi

In der Pestalozzi Bibliothek Zürich ist es an diesem Dienstagnachmittag ruhig. Tatjana Drescher hat sich im ersten Stock an einem Stehtisch eingerichtet und wartet auf Ratsuchende. Vor vier Jahren hat sie den Studiengang Gesundheitsförderung und Prävention an der ZHAW abgeschlossen und arbeitet nun bei der Schuldenberatung des Kantons Zürich. Mit ihrer Ausbildung sei das zwar kein typischer Bereich, sagt Drescher, doch ein wichtiger: «Geldsorgen können sehr belastend sein und zu psychischen oder körperlichen Krankheiten beitragen.»

Aus diesem Grund hat sie heute den Dienst in der Moneythek übernommen. Mit dem niederschwelligen Angebot sollen Menschen erreicht werden, die sich noch nicht verschuldet haben, jedoch Gefahr laufen, in eine finanzielle Notlage zu geraten. Jeden Dienstagabend zwischen 17 und 18.30 Uhr führen Fachpersonen kostenlose, anonyme Beratungen ohne Anmeldung durch.

Die Fragen der Nutzenden seien vielfältig, sagt Drescher. Manche würden zum Beispiel mit offenen Rechnungen vorbeikommen, die sie nicht bezahlen können – etwa vom Steueramt oder der Krankenkasse. Andere bringen bereits Betreibungen oder Forderungen von Inkassobüros mit oder bitten um Unterstützung beim Erstellen eines Budgets.

Viele holen sich zu spät Hilfe

Schulden haben im Prinzip fast alle Menschen. Wenn man die Zinsen für eine Hypothek, ein Leasing oder einen Kredit mit dem Einkommen gut bewältigen kann, ist das auch gar kein Problem. Gefährlich können hingegen Überschuldungssituationen werden, in denen man längerfristig weniger einnimmt als ausgibt. «Verheerend ist dabei die Schweizer Mentalität, nicht über Geld zu sprechen», sagt Gregor Mägerle, Leiter der Schuldenprävention Zürich. Das führe dazu, dass sich viele schämen, wenn sie knapp bei Kasse sind und sich nicht alles leisten können, was als normaler Lebensstandard gilt.

Leider würden Menschen mit Schulden oft viel zu lange warten, bis sie Hilfe in Anspruch nehmen, so Mägerles Erfahrung. In der Regel dauere es rund sechs Jahre von den ersten ausstehenden Forderungen bis zum Gang in eine Beratung. Stecke jemand schon tief in den Schulden, übersteige dies jedoch die Möglichkeiten der Präventionsangebote. Man verweise dann an die Schuldenberatung. Oft brauche es eine umfassende Schuldensanierung. Für die Betroffenen sei das Gefühl, nie mehr aus den Schulden herauszukommen, äusserst frustrierend, weiss Mägerle. In der Regel wird ihr Lohn gepfändet und sie müssen mit dem Minimum über die Runden kommen. In der Moneythek könne man dann nur noch Tipps geben, etwa Einkaufen in Caritas-Läden oder die Kulturlegi, die zu diversen vergünstigten Kultur- und Bildungsleistungen berechtigt.

Trennung, Kind oder Krankheit

Ein grosses Risiko für eine Überschuldung sind Lebensübergänge und Schicksalsschläge, etwa Trennungen und Scheidungen: Wenn plötzlich mit dem gleichen Einkommen zwei Haushalte finanziert werden müssen, geraten vor allem Eltern oft in Notlagen. Für Väter sind Alimente ein grosser Posten und Mütter sind oft gezwungen, mehr zu arbeiten und teure Kinderbetreuung in Anspruch zu nehmen. Aber auch die Geburt eines Kindes, Unfälle, längere Krankheiten, gescheiterte Versuche, sich selbstständig zu machen, oder bei Jungen der Auszug aus dem Elternhaus führen oft zu Ebbe auf dem Bankkonto.

Gemäss Einschätzung der Fachpersonen gerät ein Grossteil der Betroffenen unverschuldet in finanziell prekäre Situationen. Die steigenden Mieten und Krankenkassenprämien sowie die Inflation machen Menschen mit tiefen Einkommen in letzter Zeit besonders stark zu schaffen. Genaue Zahlen sind jedoch nicht verfügbar. Leider gebe es in der Schweiz nur wenige Studien zu diesem Thema, bedauert Mägerle. «Wir lechzen nach mehr Wissen über die Anzahl verschuldeter Menschen, das Ausmass und die Gründe dafür.» Er vermutet, dass nur eine Minderheit in eine Überschuldung gerät, weil sie auf zu grossem Fuss lebt oder einfach nicht mit Geld umgehen kann.

Vom Konsum verführt

Bei manchen spiele die Fixierung auf Statussymbole wie teure Autos, Markenkleider und Accessoires aber schon eine Rolle, räumt Mägerle ein. Vielen sei nicht bewusst, dass bei einem geleasten Auto weit mehr Kosten entstehen als die monatliche Abzahlung – etwa für Versicherungen, Reparaturen, Benzin und Parkgebühren. Die Empfehlung, bei einem schmalen Budget das Auto zu verkaufen, komme aber oft nicht gut an. Auch die grosse Verfügbarkeit von Konsumgütern in Onlineshops sei für viele verlockend, sagt Mägerle. «Oft geht es nicht um das Produkt an sich, sondern um den Kick, den der Kauf auslöst.»

Junge erfahren wenig über Geld

Mit Workshops an Schulen versuchen Fachleute der Schuldenprävention, junge Menschen zu erreichen. Schüler:innen erstellen ihr eigenes Budget, reflektieren ihre Konsumgewohnheiten und setzen sich mit finanziellen Themen auseinander. Die meisten Eltern würden mit ihren Kindern kaum über Geld reden, bedauert Gregor Mägerle. «Das ist fatal. Jugendliche brauchen Informationen und sollten wissen, was auf sie zukommt, wenn sie auf eigenen Füssen stehen.» Die Wirkung der dreistündigen Inputs an Schulen ist aber beschränkt, das ist Mägerle bewusst. Damit Lehrpersonen das Thema vor- und nachbereiten können, bietet die Fachstelle für Schuldenprävention Weiterbildungen an, in denen vermittelt wird, wie Geld in Fächern wie Mathematik, Deutsch, Wirtschaft oder Kochen zur Sprache kommen kann. Sehr wichtig findet Mägerle auch, dass Schulen allgemein das Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen stärken. «Dies hilft, teuren Statussymbolen und den Verführungen des Konsums zu widerstehen.»

Fragen kostet nichts

Ein weiteres niederschwelliges Angebot der Schuldenprävention ist der Moneychat. Die Webseite erklärt in gut verständlicher Sprache Themen wie Steuern, Krankenversicherung, Budget, Familie und die Möglichkeiten bei offenen Rechnungen. Zudem steht eine Chat-Funktion für Fragen zur Verfügung. In der Moneythek ist an diesem Nachmittag nur eine einzige Frau vorbeigekommen. Sie hatte Fragen zu einem SpamMail mit einer ungebührlichen Geldforderung. Letztes Mal hätten aber acht Leute das Angebot genutzt, sagt Schuldenberaterin Tatjana Drescher. Je nach Problem schauen die Beratenden Budgets an, geben Unterlagen ab, erklären verschiedene Prämienmodelle der Krankenkasse und erläutern die rechtliche Situation bei Inkasso-Forderungen oder automatischen Aboverlängerungen. «Manche kommen in der Hoffnung, wir würden ihre Rechnungen bezahlen», erzählt Tatjana Drescher. «Das können wir natürlich nicht.» //

Vitamin G., S. 16-18


Schulden machen krank

Den Zusammenhang von Überschuldung und Gesundheit hat die Universität Zürich 2019 untersucht. In einer Studie mit gut 200 Befragten aus dem Kanton Zürich zeigte sich, dass über die Hälfte von einem generell schlechten Gesundheitszustand oder mittelschweren bis schweren Depressionen betroffen war. In einer Vergleichsgruppe von knapp 2000 Personen aus der Schweizer Gesundheitsbefragung waren es lediglich 14 Prozent, respektive 7 Prozent. Auch Beschwerden am Bewegungsapparat wie etwa Rückenschmerzen sowie Schlafstörungen kamen bei überschuldeten Menschen signifikant häufiger vor. Gleichzeitig zeigt die Gruppe auch mehr selbstschädigende Verhaltensweisen wie etwa Suizidalität, Rauchen, Konsum von Alkohol und anderen Drogen sowie problematisches Geldspiel. Die Befragten waren im Durchschnitt jünger, schlechter gebildet als Personen ohne Überschuldung, unverheiratet und ohne Anstellung. Dennoch können die gesundheitlichen Differenzen nicht vollständig durch diese Aspekte erklärt werden, schreiben die Autor:innen Oliver Hämmig und Joanna Herzig.


Geld ist Männersache

Welche Rolle spielt das soziale Geschlecht bei der finanziellen Situation und der Kompetenz in Geldangelegenheiten? Dieser Frage ist Lea Maag in ihrer Bachelorarbeit im Studiengang Gesundheitsförderung und Prävention an der ZHAW nachgegangen. Letztes Jahr hat sie ein Praktikum bei der Schuldenprävention der Stadt Zürich absolviert und arbeitet dort weiterhin befristet. «Die Idee entstand unter anderem, weil auch ich mich als Frau oft überfordert fühle in diesem Bereich», sagt die 27-Jährige.

In ihrer Literaturrecherche hat Maag herausgefunden, dass Frauen und Männer in finanziellen Fragen unterschiedlich sozialisiert werden. Frauen haben tendenziell weniger Wissen über Finanzen und suchen weniger häufig nach entsprechenden Informationen. Dies könnte unter anderem an der Annahme liegen, dass sie irgendwann von einem Partner unterstützt werden. Die Rollen­verteilung hindert Frauen daran, Vermögen aufzubauen, was erhebliche Auswirkungen auf die Verhältnisse im Alter hat. Anderseits zeigen Frauen weniger Risikobereitschaft als Männer und pflegen einen vorausschauenderen Umgang mit Geld.

Die Einstellung und das Verhalten würden bereits früh im Kindesalter erlernt und überwiegend von Eltern abgeschaut, sagt Lea Maag. Für eine bessere Chancengleichheit müsse man deshalb genau dort ansetzen, wo Denkmuster über Geschlechter entstehen – etwa mit Informationen und Veranstaltungen für Eltern und Lehrpersonen. Durch die Beschäftigung mit diesem Thema sei ihr erneut bewusst geworden, wie viel Einfluss Geschlechtsstereotypen auf verschiedene Lebensbereiche haben. «Je früher wir beginnen, sie zu hinterfragen, desto mehr können wir bewirken.»


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