Schlafprobleme, ein geschwächtes Immunsystem, Angstzustände: Gesellschaftliche Tabus können krank machen. Weshalb, erklärt Gesundheitssoziologin und Sozialwissenschaftlerin Birgit Ulrika Keller.
Von Nina Kobelt
Birgit Ulrika Keller, welche Funktion haben gesellschaftliche Tabus?
Tabus sind stille Übereinkünfte, die unser soziales Miteinander flankieren oder regeln. Sie können sich im Laufe der Zeit verändern und sind stark von unseren gesellschaftlichen Normen und Werten beeinflusst.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Bis vor ein paar Jahrzehnten war es zum Beispiel undenkbar, offen über psychische Krisen zu sprechen. Und es ist noch nicht so lange her, dass öffentliche Personen wie Sportler:innen oder Schauspieler:innen offen über eine psychische Erkrankung berichten. Viele Vorurteile konnten abgebaut werden – vor allem dank intensiver Aufklärungsarbeit zum Beispiel von Selbsthilfebewegungen.
Das ist grundsätzlich eine Wendung ins Positive.
Ja, durchaus. Das Bewusstsein für die Bedeutung von Emotionen und den Umgang damit wächst stetig. Dabei spielen auch die sozialen Medien eine zentrale Rolle – dort werden Erfahrungen und Wissen geteilt, Gleichgesinnte finden oft sozialen Rückhalt. Gleichzeitig findet online aber auch ein bedenkenswerter Trend statt: Selbstoptimierung ist das Gebot der Stunde. Man steht in einem andauernden sozialen Vergleichsprozess, der selbst nach Schulschluss oder am Feierabend im heimischen Umfeld nicht endet. Darin liegt sicher eine der gegenwärtig relevantesten Stressquellen.
Und diese können krank machen?
Gefühle von Unzulänglichkeit, Versagensängste in schulischen und beruflichen Situationen – ja. Immer dann, wenn Menschen befürchten, sie könnten Stigmatisierung und Ausgrenzung erfahren, kann sich das langfristig auf die Gesundheit auswirken.
Wie funktioniert dieser Mechanismus, bei dem aus tabuisierten Themen Stress werden kann?
Wenn wir etwas nicht aussprechen wollen, das uns belastet, liegt es meist daran, dass wir uns dafür schämen. Wir haben Angst, zu scheitern und womöglich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu verlieren. Aus der neurobiologischen Forschung weiss man, dass sich unser Organismus dann in einer Art Dauerfeuer befindet – dabei handelt es sich weniger um einen akuten Flächenbrand, als um ein kontinuierlich loderndes Feuer, das zu physischen und psychischen Schäden führen kann.
Warum?
Ursache dafür ist vor allem das Stresshormon Cortisol. Wenn davon dauerhaft zu viel ausgeschüttet wird, kann es zu Schlafproblemen, einem geschwächten Immunsystem oder Stoffwechselstörungen kommen. Auch Niedergeschlagenheit oder gar Angsterkrankungen und Depressionen können auftreten.
Ist Stress eine Folge unserer heutigen Lebensumstände?
Seinen Ursprung hat dieser Mechanismus in uns vermutlich schon vor Millionen von Jahren. Ohne Stressreaktionen wie Flucht, Kampf oder Erstarren gäbe es die Menschheit in heutiger Form vielleicht gar nicht. In den Stressreaktionen bildet sich die hohe Anpassungsfähigkeit des Menschen ab.
Salopp formuliert: Wir brauchen also Tabus, um zu überleben?
Ja, auch wenn das mit unserem Menschenbild von heute vielleicht nur schwer vereinbar ist. Es liegt in unserer Natur, dass wir versuchen, einer sozialen Gemeinschaft anzugehören – und deshalb vielleicht lieber einmal zu oft schweigen, uns lieber selbst verleugnen, als uns blosszustellen und dadurch den Ausschluss zu riskieren. Früher war der Mensch ohne den Schutz der Gruppe in der Wildnis nicht überlebensfähig. Heute umgibt uns eine andere Wildnis: Das Internet, der Schulhof, der zu meisternde Einstieg in die Arbeitswelt, die Phase der Familiengründung. Ohne ein stärkendes und schützendes soziales Umfeld sind die Herausforderungen jeder Entwicklungsphase äusserst schwierig zu bewältigen. Deshalb ist Ausgrenzung auch heute noch bedrohlich und Zugehörigkeit überlebenswichtig.
Was kann man präventiv tun?
Glücklicherweise haben viele Tabus heute deutlich weniger Gültigkeit. Unsere Gesellschaft wird diverser und will eigentlich offener sein. Nur: Für eine Kultur des Miteinanders sind bestimmte Rahmenbedingungen vonnöten, vielleicht auch Vorbilder. Menschen in verantwortungsvollen Rollen, Führungskräfte, Lehrpersonen, die sich aktiv für ein wertebasiertes Miteinander einsetzen.
Und diese Vorbilder fehlen?
Konkurrenz in der Bildungs- und Arbeitswelt treibt Menschen eher dazu an, andere zu bewerten und zu verurteilen. Zunehmender Leistungsdruck fördert ein kompetitives Klima, in dem nur wenig Raum bleibt für Mitgefühl und Achtsamkeit.
Sie unterrichten und forschen im Feld der Gesundheitsförderung und Prävention. Wie gehen Sie mit diesen Problemen um?
Die Profession Gesundheitsförderung beruht auf einem humanistischen Menschenbild. Es geht im wesentlichen darum, Menschen zu stärken und Lebenswelten – beispielsweise Familien, Schulen, aber auch Betriebe – gesundheitsförderlich zu gestalten. Wer sich dem Thema Gesundheit vertieft zuwendet, gelangt früher oder später an Fragen des sozialen Miteinanders sowie der Gesprächs- und Teamkultur. Fachpersonen der Gesundheitsförderung regen solche Prozesse an, moderieren, geben Ideen und bringen methodische Kompetenzen ein, die auf Partizipation und Empowerment aller Beteiligten ausgerichtet sind.
Wie setzen Sie das in Ihrem Alltag um?
Ich motiviere Studierende, den Mut zu haben, in ihren späteren Handlungsfeldern auch auf komplexere Themen aufmerksam zu machen. Solche, die eher auf das soziale Miteinander abzielen als auf kurzfristige Verhaltensänderung. Ich glaube, dass ein grosser Gesundheitsgewinn in einem stetigen Hinterfragen gesellschaftlicher Tabus liegt. Und in einem achtsamen Miteinander, das soziale Ängste vor Ausgrenzung und Zurückweisung reduziert. //
«Erste Hilfe» bei psychischen Problemen
Wie geht man auf Menschen mit psychischen Schwierigkeiten zu? Wie erkennt man überhaupt, dass jemand Probleme hat? Alice Inauen Lehner, Dozentin und stellvertretende Leiterin des Bachelorstudiengangs Gesundheitsförderung und Prävention, vermittelt Studierenden in «ensa Erste-Hilfe-Kursen» die Grundlagen dazu. Ensa ist die Schweizer Version des australischen Programms «Mental Health First Aid». Die Idee dahinter: Die Grundlagen von Erster Hilfe bzw. von Nothelferkursen auf psychische Probleme zu übertragen. Konkret lernen Studierende im Kurs Symptome, Risikofaktoren sowie Behandlungsmöglichkeiten bei Depressionen, Angststörungen, Psychosen und bei Störungen des Substanzgebrauchs kennen. Im praktischen Teil werden Grundlagen der Gesprächsführung behandelt und die fünf Schritte bei Erster Hilfe für psychische Gesundheit geübt. Wissenschaftliche Studien untermauern den Nutzen von ensa.