Wenn besonders viel Empathie gefragt ist

Wie gehen Forschende mit vulnerablen Studienteilnehmenden um? Was tun sie, damit die Personen nicht zusätzlich belastet werden? Und: Was ist mit ihren eigenen Emotionen? Diese Fragen stellen sich bei der ZHAW-Studie über Suizidversuche bei LGBTQ+-Jugendlichen.

Von Eveline Rutz

In der Schweiz ereignen sich mehr Suizide als tödliche Verkehrsunfälle. Pro Tag beenden zwei bis drei Menschen ihr Leben. Jährlich werden über 30 000 Versuche registriert; die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Dass LGBTQ+-Menschen stärker von suizidalem Verhalten betroffen sind als heterosexuelle, ist aus der Wissenschaft bekannt. Besonders gefährdet sind sie in der Adoleszenz – wenn sie von Kindern zu Erwachsenen werden. «Wie es in dieser Gruppe zu Suizidversuchen kommt, ist in der Schweiz jedoch kaum erforscht», sagt Andreas Pfister, Co-Leiter des Instituts für Public Health (IPH). Vor allem qualitative Daten fehlten.

Mit seinem Team arbeitet er daran, diese Forschungslücke zu schliessen. Das Projekt, das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt wird, bezieht verschiedene Perspektiven ein (siehe Kasten auf der nächsten Seite). So werden nicht nur Betroffene ab 14 Jahren, sondern auch deren Angehörige sowie andere nahe Bezugspersonen befragt. «Ihre Wahrnehmungen sind zentral, damit man rechtzeitig intervenieren kann», betont Pfister. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, die Prävention zu verbessern. «Wenn wir die Hintergründe und die Prozesse eines Suizidversuchs besser verstehen, können wir LGBTQ+-Jugendliche und ihr soziales Umfeld gezielter ansprechen.»

Ethische Aspekte

Der Bundesrat will die Suizidrate bei der Gesamtbevölkerung bis 2030 – verglichen mit 2013 – um 25 Prozent senken. 2013 sind in der Schweiz 1034 Suizide registriert worden. Mit dem «Aktionsplan Suizidprävention» verfolgt der Bund unter anderem das Ziel, vulnerable Gruppen besser zu erreichen. Das Bewusstsein für die Thematik müsse in allen Lebensbereichen zunehmen, sagt Esther Walter vom Bundesamt für Gesundheit. «Weil die professionelle Hilfe, die gibt es. Aber man muss sie frühzeitig in Anspruch nehmen.»

Der Bund hat eine Machbarkeitsstudie zum ZHAW-Projekt finanziert. Denn die Forschenden befassen sich mit einem sensiblen Thema und befragen psychisch belastete Personen. Das verlangt ein besonders durchdachtes Vorgehen. In der Machbarkeitsstudie haben sie untersucht, worauf sie achten müssen, wenn sie Teilnehmer:innen rekrutieren und befragen. Sie sind zudem an die Ethikkommission Nordwest- und Zentralschweiz (EKNZ) gelangt. Diese hat das Vorhaben als wissenschaftlich relevant und ethisch vertretbar eingestuft.

Stephan Kupferschmid, Chefarzt Adoleszenzpsychiatrie der Integrierten Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland (IPW), begleitet das Projekt als Fachbeirat und Supervisor. Er hat die Mitarbeitenden geschult und an einer Checkliste mitgearbeitet, die Anweisungen für die ersten Abklärungen, die eigentliche Befragung sowie mögliche Notfall-Situationen enthält. «In der Psychotherapie – gerade im ambulanten Bereich – ist es essentiell, dass wir Patient:innen nach einer Sitzung mit einem guten Gefühl ziehen lassen können», sagt er. «Dafür gibt es Werkzeuge.» So prüfen Therapierende etwa, ob ihre Klient:innen psychisch stabil sind, und stellen sicher, dass sie in soziale Strukturen eingebunden sind.

Vertrauensvolle Atmosphäre

«Die Sicherheit aller Beteiligten hat oberste Priorität», betont Studienleiter Pfister. Er verweist auf die Nummer der Pro Juventute (147), die auf allen Flyern und der Projektwebsite erwähnt ist. Sämtliche Unterlagen sind vorgängig mit LGBTQ+-Jugendlichen besprochen worden, die einen Suizidversuch hinter sich haben. Sie sollen die Zielgruppe weder triggern noch stigmatisieren. «Es ist schwieriger als bei anderen Themen, die Studie zu bewerben», sagt der Sozialpädagoge. Transparenz ist dabei entscheidend. So wird klar kommuniziert, dass es um ein wissenschaftliches Projekt geht und kein therapeutischer Effekt zu erwarten ist.

Teilnehmen können ausschliesslich junge Menschen, die in einer stabilen Verfassung sind. Niolyne Bomolo, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin, achtet bei der Rekrutierung etwa darauf, wie eine Person ihre Geschichte erzählt. «Wir haben vor der Befragung mehrmals miteinander zu tun. Da zeigt sich, ob jemand Fragen zum Prozess und zum Kontext des eigenen Suizidversuchs beantworten kann, ohne zu stark belastet zu werden.»

Die Jugendlichen sollen keine traumatische Erfahrung machen; sie haben jederzeit die Möglichkeit, auszusteigen. Wo sie befragt werden – ob zu Hause, an einem neutralen Ort oder an der ZHAW –, können sie selbst entscheiden. Es soll eine vertrauensvolle Atmosphäre entstehen. Soziale Kompetenz sei in einem derart sensiblen Themenfeld besonders gefragt, sagt Niolyne Bomolo. Man müsse den Teilnehmer:innen empathisch begegnen und flexibel reagieren, ohne die Forschungsfragen aus dem Blick zu verlieren.

Ängste nehmen

Die vorbereitende Schulung sei sehr hilfreich gewesen, so Bomolo. Dank seiner langjährigen Erfahrung habe Supervisor und Psychiater Stephan Kupferschmid das Team gut auf mögliche Interviewsituationen vorbereitet. Dazu zählten detaillierte Schilderungen von destruktiven Handlungen, denen man neutral begegnen soll. «Wir sind aber auch ermutigt worden zu sagen, wenn uns etwas unangenehm ist», so Bomolo. Zudem habe der Psychiater aufgezeigt, dass Forschende in einer kritischen Situation beispielsweise auch eine Bezugsperson der Befragten anrufen können. «Damit hat er uns Ängste genommen.» In einer späteren Sitzung sind dann Fragen geklärt worden, die während der Erhebung aufgekommen sind. So wurde etwa thematisiert, welche Körpersprache darauf hindeutet, dass man nicht weiter nachfragen soll.

Positives Feedback

Das Vorgehen hat sich bewährt. Die Interviews seien für die Teilnehmer:innen manchmal emotional, sagt Andreas Pfister. Bis jetzt sei aber niemand destabilisiert worden. Im Gegenteil: Die Reaktionen seien mehrheitlich positiv. «Viele schätzen es, dass sie ihre Geschichte einmal ausserhalb eines therapeutischen Kontextes erzählen können.» Suizid sei immer noch ein grosses gesellschaftliches Tabu, so der Sozialwissenschaftler. Betroffene – gerade Angehörige – äusserten sich meist zurückhaltend. Niolyne Bomolo teilt diese Beobachtung: «Man redet nicht gerne darüber.» Dies stellt sie etwa beim Small Talk fest, wenn sie erzählt, woran sie arbeitet, und ihr Gegenüber nicht weiter nachfragt.

Die ZHAW-Mitarbeiterin hört im Rahmen des Forschungsprojekts schwierige Lebensgeschichten, kann sich davon jedoch gut abgrenzen. Ihre Rolle hilft ihr dabei: «Es ist immer klar, dass ich als Forscherin involviert bin.» Nach einer Befragung geben sich die Team-Mitglieder jeweils per Mail eine kurze Rückmeldung. Die wöchentliche Sitzung nutzen sie ebenso, um sich auszutauschen. «Wir haben eine offene Gesprächskultur», sagt Niolyne Bomolo. «Da staut sich nichts an.»

Stephan Kupferschmid bestätigt dies. «Bis jetzt ist es zu keiner Situation gekommen, in der es mich gebraucht hätte», sagt der Supervisor. Grundsätzlich gebe es aber immer wieder Schicksale, die einen stark bewegten. Dies erlebten alle Fachleute – selbst nach einer langen Ausbildung und intensiver Selbsterfahrung. Als er Vater wurde, machte es Kupferschmid eine Zeit lang zu schaffen, sich mit Kinderschutzfällen zu befassen. Inzwischen kann er sich solchen Fällen wieder mit einer gesunden Distanz widmen. Die Aussicht, die Situation der Kinder zu verbessern, steht wieder im Vordergrund. Sich im Team auszutauschen, helfe, sagt der Chefarzt. «Damit man mit seinen Emotionen nicht alleine ist.»

Negatives Selbstbild

Die Forschungsarbeit über Suizidversuche bei LGBTQ+- Jugendlichen kommt voran. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Erfahrung als Minorität ein besonderer Risikofaktor ist. Lesbische, schwule, bisexuelle, trans oder queere Jugendliche werden häufiger ausgeschlossen und gemobbt. Wird ihre Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung gesellschaftlich abgewertet, entwickeln sie teilweise ein negatives Selbstbild. Hinzu können Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen kommen. «Sie sind spezifischen Belastungen ausgesetzt», sagt Kupferschmid, der oft mit Opfern von massivem Mobbing zu tun hat. Gerade im schulischen Kontext könnten präventive Massnahmen daher wirksam sein. Die Sensibilität für unterschiedliche Lebenssituationen müsse insgesamt zunehmen, betont Studienleiter Pfister. «Alle Strukturen sollten inklusiv sein und auch LGBTQ+-Menschen einschliessen». //


Hier erhalten Sie Hilfe

Wenn Sie sich belastet fühlen, erhalten Sie hier schnelle und kompetente Beratung und Hilfe:

  • Für Jugendliche Pro Juventute: Telefonnummer 147 oder online www.147.ch
  • Für Erwachsene Die Dargebotene Hand: Telefonnummer 143 oder online www.143.ch

Weitere Informationen

Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert