Keine Handlung ohne Einwilligung

Schmerzen von ungeahntem Ausmass, Notkaiserschnitte, Gewalt: Seit einigen Jahren kommt verstärkt zur Sprache, dass Geburten traumatisierend sein können. Zwei Hebammen erklären, weshalb es so weit kommt und wie sich solche Erlebnisse vermeiden lassen.

VON CAROLE SCHEIDEGGER

Die allermeisten Geburten sind eine Grenzerfahrung, die mit Kontrollverlust einhergehen kann. «Dennoch empfinden viele Frauen das Erlebnis Geburt positiv und verbinden es später mit schönen Erinnerungen», sagt Regula Aeberli, Co-Leiterin der Gebärabteilung am Universitätsspital Zürich. «Von Trauma sprechen wir, wenn ein Ereignis nicht mehr sinnvoll verarbeitet werden kann, zum Beispiel aufgrund von starken Schmerzen, zu vielen Eindrücken oder anderen Erlebnissen während der Geburt.»

Damit es möglichst nicht so weit kommt, rät Regula Aeberli Schwangeren, sich innerlich auf die Geburt einzustimmen. Sich dafür Zeit zu nehmen, selbst wenn das für die hiesigen Frauen ohne vorgeburtlichen Mutterschaftsurlaub nicht immer einfach sei. «Hilfreich kann ein Geburtsvorbereitungskurs sein», sagt die Hebamme. Sie warnt jedoch vor einem zu fixen Plan, wie die Geburt ablaufen müsse. Denn es sei im Wesen einer Geburt, dass sie viele Unsicherheiten mit sich bringe. «Für uns Hebammen liegt die Kunst darin, eine Frau auf die Ungewissheit und die Unplanbarkeit einzustimmen und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Damit sie auch dann vertrauen kann, wenn Ungeplantes eintrifft.» Aeberli ist der Meinung, dass es nicht schadet, wenn werdende Eltern sich auch mit unangenehmen Gefühlen auseinandersetzen. «Es ist normal, dass im Hinblick auf die Geburt Ängste und Befürchtungen auftauchen können. Gesellschaftlich gilt die Geburt eines Kindes als etwas Schönes – aber sie kann auch sehr schwer sein.»

Altes Trauma kommt hoch

Ein erhöhtes Risiko für eine traumatische Geburtserfahrung haben Menschen, die bereits vorher ein traumatisches Erlebnis hatten, zum Beispiel Frauen, die Gewalttaten überlebt haben. Es kann dann zu einer Retraumatisierung kommen. Das betrifft gelegentlich auch Männer, die eine Geburt miterleben. Ein anderer Grund kann die Diskrepanz zwischen den Erwartungen und dem tatsächlich Erlebten sein. Vielleicht träumte eine Frau von einer Geburt ohne Interventionen und erlebt am Ende, wie ihr Kind nach tagelangen Wehen mit der Saugglocke geholt wird.

Regula Aeberli betont, dass es aber nicht immer nur an den Erwartungen liege. Manche Frauen erleiden Gewalt unter der Geburt, ein Thema, das erst in den letzten Jahren auch öffentlich diskutiert wird. «Es ist wichtig, dass man nun darüber spricht», sagt Aeberli. Sie nennt einige der Vorkommnisse, die laut der Weltgesundheitsorganisation WHO Gewalt unter der Geburt darstellen: Wenn Gebärende festgehalten, beschimpft und angeschrien werden, wenn sie keine freie Wahl der Geburtsposition haben, auf entwürdigende Weise untersucht werden oder Interventionen ohne Einverständnis vorgenommen werden. «Letzteres habe ich selbst miterlebt, zum Beispiel Dammschnitte ohne Einverständnis. Das wurde vor 30 Jahren noch gemacht. Die Frauen haben sich damals nicht beschwert. Dass sie sich heute beschweren, ist richtig.» Natürlich gebe es – wenn auch selten – Notfallsituationen, in denen es sehr schnell gehen müsse. Ist die Gebärende oder das Kind in Gefahr, kann es zu einem Notkaiserschnitt kommen. «Ich sage dann zu den werdenden Eltern: ‹Wir besprechen es nachher mit Ihnen.› Und das muss man dann natürlich auch tun und die sorgsame Begleitung nachholen.»

Zeit, nicht Geld

Der Kommunikation misst Aeberli generell grosse Wichtigkeit bei, ebenso einer guten Zusammenarbeit zwischen den Hebammen und den Ärzt:innen. Die Frauen bekommen nämlich sehr genau mit, wie die Zusammenarbeit läuft. Natürlich gebe es Situationen, in denen sich die Fachpersonen nicht auf Anhieb einig seien. «Ich versuche jeweils zu erklären, dass verschiedene Möglichkeiten bestehen und wir uns besprechen müssen, dies aber ein normaler Vorgang sei. Danach erkläre ich die Optionen», sagt Aeberli, die am Institut für Hebammen der ZHAW in der Weiterbildung und im Bachelorstudiengang unterrichtet.

Wie Aeberli allerdings klarstellt, bedeutet der Begriff «Gewalt in der Geburtshilfe» nicht, dass Fachpersonen absichtlich Gewalt anwenden. «Niemand ist in diesem Beruf, weil er oder sie Gewalt anwenden will.» Fehlverhalten komme dennoch vor – zum Beispiel aus eigener Überforderung. Essenziell sei, dass dieses als solches erkannt und aufgearbeitet werde, auch um daraus zu lernen. Zudem müssten auf gesellschaftlicher Ebene die Ursachen für strukturelle Gewalt abgebaut und Präventionsmassnahmen aufgebaut werden. «Für eine gute Geburt ist eine 1:1-Betreuung und viel Zeit nötig. Die Abläufe müssen auf die Gebärenden und ihr Umfeld ausgerichtet sein.» Dafür braucht es eine gute Personaldecke – und im aktuellen Gesundheitssystem mit seinen ökonomischen Zwängen ist das nicht immer gegeben.

Zusammenarbeit auf Augenhöhe

Angehende Hebammen sollten zwingend über Trauma, Gewalt und Zwang Bescheid wissen, ist auch Kristin Hammer, Dozentin im Bachelor Hebamme an der ZHAW, überzeugt. «Denn Übergriffe können ein ganzes Leben prägen.» Mit den Studierenden wird zum Beispiel thematisiert, dass zwischen medizinischen Fachpersonen und den Klient:innen ein Machtgefälle besteht und wie sie damit umgehen können. «Die Studierenden lernen, mit den Klient:innen auf Augenhöhe zu arbeiten. Die Gebärende bestimmt über ihren Körper und alle Massnahmen. Wir Fachpersonen sollten bei jeder Handlung, die wir vornehmen, um Erlaubnis fragen. Auch das ist eine Form von Prävention von traumatischen Geburten», sagt Kristin Hammer.

Doch manchmal versagt auch die beste Prävention. Dann gilt es, die Frauen gut aufzufangen, Gesprächsangebote zu machen, selbst wenn Traumatisierte anfänglich häufig nicht über ihr Erlebnis sprechen können. «Am Unispital Zürich rufen wir alle Frauen, die dies wünschen, einige Wochen nach der Geburt an», sagt Regula Aeberli. «Manchmal müssen wir sie an Psychologinnen weiterverweisen.» Eine traumatische Erfahrung kann die Mutter, das Baby und die ganze Familie schwer beeinträchtigen. «Aber Traumata sind behandelbar. Wir ermutigen deshalb alle, sich Hilfe zu holen.» //

Vitamin G, S. 20-21


Weitere Informationen

Magazin «Vitamin G – für Health Professionals mit Weitblick»


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert