Reise zu einem neuen Zürcher Nachtnetz – Ein interaktiver Vergleich von ÖV-Nachtnetzen im DACH-Raum

Gastbeitrag der Klasse VS20a

Mitten in der Nacht mit dem ÖV nach Hause zu fahren, ist in vielen Städten Europas selbstverständlich. In der Schweiz hingegen nicht, und wenn, dann höchstens am Wochenende. Warum hat ausgerechnet das ÖV-Land Schweiz kein 24/7-Nachtnetz? Was zeichnet ein ÖV-Nachtnetz aus? Und wie könnte ein solches 24/7-Netz in Zürich aussehen? Studierende des ZHAW-Studiengangs Verkehrssysteme haben sich auf eine Reise begeben, um diese Fragen in einer Semesterarbeit zu beantworten.

Reisestart in Zürich

Über das nächtliche Mobilitätsverhalten in der Nacht ist bisher wenig bekannt, so auch in Zürich. Obwohl schon lange mit dem Gedanken gespielt wird, ein Nachtnetz auch unter der Woche anzubieten, sind bisher kaum Daten zur Nachfrage vorhanden. Zudem ist auch nicht bekannt, welche Daten überhaupt etwas über die Mobilität in der Nacht aussagen könnten. Um einen Eindruck davon zu erhalten, wurde in einem ersten Schritt eine Reise in andere Städte im DACH-Raum unternommen. Die Lage und das Bestehen eines 24/7-Netzes dienten dabei als Auswahlkriterien.

Index als Wegweiser

Der Vergleich der verschiedenen ÖV-Nachtnetze ist herausfordernd, da sich die verschiedenen Städte in Einwohnerzahl, Topografie, Historie und Kultur deutlich unterscheiden. Als Lösung für dieses Problem wurde ein neuer Nachtnetz-Index geschaffen. Dieser nutzt verschiedene Daten der Städte und ihres nächtlichen ÖV-Angebots und erzeugt daraus einen normierten Wert. Diese Index-Zahl steht für die Qualität des 24/7-Netzes und ermöglicht erstmals einen aussagekräftigen Vergleich zwischen den verschiedenen Nachtangeboten. Der Index ist über eine benutzerfreundliche Applikation nutzbar und kann frei um weitere Städte ergänzt werden.

Frankfurt und Dresden als Etappenziele

Auf der interaktiven Karte oben sind sämtliche besuchten Städte im DACH-Raum mit einem durchgehenden ÖV-Nachtnetz abgebildet. Die Grösse des Kreises veranschaulicht den Indexwert und somit die Qualität des Nachtnetzes. Heraus sticht beispielsweise Frankfurt, wo ein ÖV-Nachtnetz betrieben wird, dass aus einer S-Bahn-Linie und 30 Nachtbus-Linien besteht. Gemäss Aussagen des Rhein-Main-Verkehrsverbundes hat dieses gute Nachtnetz jedoch einen Hauptgrund: nämlich den Flughafen Frankfurt, der an 24 Stunden eine Nachfrage von Beschäftigten und Reisenden generiert. Der Flughafen ist jedoch etwa viermal grösser als der Flughafen in Zürich-Kloten, was den direkten Vergleich erschwert.

Ebenfalls klar ersichtlich ist die grosse Dichte an Nachtnetzen in Ostdeutschland, wo es beispielsweise auch in Dresden ein 24/7-Netz gibt. Nach Angaben der Verkehrsbetreiber entstanden diese in der ehemaligen DDR, um der Bevölkerung ohne Auto trotzdem Mobilität zu ermöglichen. Auch heute wird die Politik als entscheidender Treiber hinter den Nachtnetzen identifiziert. In Wien beispielsweise hätte die Nachfrage keinen 24/7-Betrieb der U-Bahn gerechtfertigt. Weil die Politik dies jedoch fordert, (und auch finanziert), fährt die U-Bahn seit einigen Jahren auch in der Nacht. Erfreulicherweise induzierte das Angebot auch zusätzliche Nachfrage, weshalb einzelne Linien einen Kostendeckungsgrad von bis zu 40 % erreichen.

Rückreise in die Schweiz

Zurück in der Schweiz existieren heute unter der Woche keine Nachtnetze. In den grössten Städten wie Genf, Basel oder Winterthur existieren lediglich Nachtnetze am Wochenende, ebenso in Zürich. Werktags zwischen 1 Uhr und 5 Uhr morgens ruht der ÖV aber grundsätzlich. Die Gründe dafür werden von Experten an verschiedenen Stellen verortet. Einige sehen die Stadt Zürich als zu kleinräumig an. Dem gegenüber steht aber der Erfolg des ÖV-Nachtnetzes beispielsweise in Kiel, einer Stadt mit 250’000 Einwohner*innen. Ebenfalls genannt wird die Schweizer Mentalität, welche keine 24/7-Gesellschaft möchte. Weiter soll der grosse Wohlstand hinderlich sein, da sich in Zürich das Gros ein Auto und somit eine Alternative leisten kann. Dennoch schätzen auch die befragten Experten das Thema als sehr relevant ein. Besonders mit Blick auf die Verkehrswende, die die Schweiz bis 2050 erreichen möchte, kann ein durchgehender ÖV von grosser Bedeutung sein.

Ankunft in Zürich

Kaum ein ÖV-Verkehrsbetreiber verfügt über genügend Daten zur Nachfrage in der Nacht. Da auch die Kommunen nicht weiterhelfen konnten, wurden für Zürich im Rahmen dieser Studie verschiedene Datenquellen zu einem fundierten Datensatz zusammengeführt. Dazu gehören beispielsweise Werte aus öffentlichen MIV-Zählstellen, Aussagen von Gewerbeverbänden oder Mikromobilitätsverbindungen. Die quantitativen Messdaten konnten in eine Quelle-Ziel-Matrix übersetzt werden, während die qualitativen Infos zum Überprüfen von Nachfrage-Hotspots genutzt wurden. Zusammen ergibt sich ein realistisches Abbild der nächtlichen Verkehrsströme.

In der folgenden Grafik sind als Beispiel für qualitative Daten die Gastronomiebetriebe in Zürich dargestellt. Zu sehen sind die Betriebe, die auch nach 1 Uhr noch geöffnet sind und somit potenzielle Ziele und Quellen für den Nachtverkehr darstellen. Beginnend mit der Nacht von Sonntag auf Montag nimmt die Anzahl Lokalitäten im Verlauf der Woche zu. Ebenfalls erkennbar ist die «Partymeile» in der Langstrasse, wo von Donnerstag bis Samstagnacht deutlich mehr Lokale offen sind.

Über alle Datenquellen und Nachfragehotspots ist aber zu sehen, dass die Nachfragezahlen insgesamt sehr tief sind. Dadurch sind der Sinn und die Wirtschaftlichkeit eines 24/7-Netzes stark infrage gestellt. Gemäss den eingeholten Erfahrungen im Ausland wäre hier die Unterstützung der Politik entscheidend, die das Nachtnetz fordern und fördern müsste. Bisher ist in Zürich aber kaum eine Unterstützung spürbar. Wenn überhaupt wird vorerst eine Ausdehnung des Wochenendnetzes auf die Donnerstagnacht angedacht.

Was bleibt von der Reise in Erinnerung?

Ein erstes Highlight der Reise ist der Nachtnetzindex. Erstmalig können die Nachtnetze – auch angedachte Varianten – in den erfassten deutschsprachigen Städten miteinander verglichen werden. Dies bringt besonders für Betreiber und Besteller einen grossen Vorteil bei der Einordnung eines neu- oder umgestalteten Nachtangebots.

Der zweite Höhepunkt bildet die Quelle-Ziel-Matrix und deren Ergebnisse. Mittels diverser Datenquellen konnte ermittelt werden, welche Reisewege in der Nacht gewählt werden und wie gross diese Ströme sind. Diese Nachfragematrix kann als Grundlage für weitere Planungen und Abklärungen verwendet werden. Damit verfügt Zürich über eine gute Ausganslage, ein nachfrageorientiertes ÖV-Nachtnetz aufzubauen.

Im weiteren Projektverlauf wurde die Matrix genutzt, um für Zürich verschiedene Nachtnetzvarianten zu entwickeln und zu vergleichen. Die Bestvariante wurde detailliert ausgearbeitet und für einen Pilotversuch vorgeschlagen. Inwiefern diese Empfehlungen umgesetzt werden, liegt nicht mehr in den Händen des Projektteams. Die Reise ist aber bestimmt noch nicht zu Ende, denn unbestritten wird die Thematik des Nachtverkehrs in Zukunft immer wichtiger. Und wer weiss, vielleicht kann ja bald auch in der Nacht mit dem ÖV durch Zürich gereist werden.


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