Zwischen Selbstbild und Fremdbild von Führungskräften klafft häufig eine grosse Lücke, wie jüngst eine repräsentative Studie des Instituts für Demoskopie in Allensbach feststellte. Unter anderem bescheinigten nur 38% ihrem Chef Offenheit für Kritik, nur jeder Dritte fühlte sich durch ihn bei der Umsetzung der eigenen Fähigkeiten unterstützt. Die Vorgesetzten hingegen schätzten sich in den meisten Punkten erheblich besser ein als die Untergebenen.
Vielleicht entsteht diese Kluft durch mangelnde Selbsteinschätzung der Führungskräfte. Sie fühlen sich oft dazu berufen, andere zu führen, ohne jedoch sich selbst richtig führen zu können. Wer sich aber nicht selbst führen kann, der wird leicht Spielball der eigenen meist unbewussten Impulse, Affekte, Begierden und Ressentiments. Anstatt die vermeintlichen Fehler der Mitarbeiter zu verzeihen oder geduldig deren Standpunkte abzuwägen, folgen sie oft unreflektiert ihrem inneren Drang, den Mitarbeitern zu zeigen, wer Herr im Hause ist und wer souverän die Lage im Griff hat. Dies führt im Gegenzug zu Duckmäusertum und kritiklosem Befolgen der Anordnungen des Vorgesetzten. Dass daraus Schäden erwachsen können, die den Erfolg ganzer Unternehmen bedrohen, sieht man an Beispielen wie dem Abgasskandal bei VW oder der maroden Sicherheitspolitik bei Tepco, dem Kernkraftwerksbetreiber in Fukushima.
Was Tugendethik mit Führung verbindet
Die Fähigkeit zur Self-Leadership, sich selbst führen zu können, hat schon Aristoteles in seiner Tugendethik erkannt. Man kann seinen Charakter durch Gewöhnung an gewünschte Verhaltensweisen, den Tugenden, entwickeln. Diese kontrollieren die inneren Impulse, indem der Akteur lernt die goldene Mitte zwischen extremen Handlungsweisen zu treffen, die man auch als Laster bezeichnet. Wer die Tugend des Mutes leben will, sollte weder tollkühn noch feige sein. Der Freigebige sucht die Mitte zwischen Verschwendung und Geiz. Wer leicht jähzornig wird, sollte die Tugend der Selbstbeherrschung erlernen, ohne dabei der Schwächlichkeit zu verfallen.
Gerade Führungskräfte sollten solche Tugenden entwickeln, indem sie zunächst lernen, sich regelmässig selbst zu beobachten. Die Erinnerung an Situationen, in denen man Konflikte erlebt und wie man darauf reagiert hat, spielt dabei eine grosse Rolle. Man kann nämlich dabei die unerwünschten Eigenschaften identifizieren und imaginativ durch gewünschte ersetzen. Und was das Gehirn sich immer wieder vorstellt, das kann – wie auch die jüngere Hirnforschung und Epigenetik zeigen – nach einiger Zeit sich auch im Verhalten konkretisieren.
Wer also als Führungskraft seinen Mitarbeitern nicht länger zur Last fallen, sondern statt dessen deren Bemühungen zur Zielerreichung konstruktiv fördern will, der sollte seine Selbstreflexionskompetenz auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls zur Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit ausbauen.