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Erfolgreiche Präventionsgespräche im Sexgewerbe: Eine Frage der Sprache oder des Vertrauens?

Sexarbeiter:innen verfügen oft über nur geringe Deutschkenntnisse. Das ist eine Herausforderung für die Gesundheitsprävention. Zwei Studentinnen aus dem Bachelor Mehrsprachige Kommunikation haben in ihrer Abschlussarbeit untersucht, wie Mitarbeiter:innen der Isla Victoria mit den sprachlichen Hindernissen umgehen. Für ihre hervorragende Arbeit wurden sie mit dem Preis der SwissGlobal Language Services AG 2023 ausgezeichnet. Worum es in der Arbeit geht, hier im Beitrag.

Autorinnen: Moira Alessandra Russo und Dana Menia Cacciator Gonzalez, Absolventinnen Bachelor Mehrsprachige Kommunikation

Erfolgreiche Präventionsarbeit in der Erotikbranche leistet einen wichtigen Beitrag für die Gesundheit der Gesellschaft. Kommunikation, die auf das Individuum abgestimmt ist, ist dabei der Schlüssel zum Erfolg. Die Isla Victoria steht Sexarbeiter:innen in der Region Zürich – viele unter ihnen Migrant:innen – bei rechtlichen, sozialen und gesundheitlichen Fragen zur Seite und übernimmt dabei eine Vorreiterrolle. Bei ihrer Präventionsarbeit treffen die Mitarbeiter:innen der Isla Victoria auf eine riesige kulturelle Vielfalt und oft auch auf sprachliche Hindernisse, da ein Grossteil der Sexarbeitenden über nur geringe bis keine Deutschkenntnisse verfügt. Wie sich zeigte, sind Sprachbarrieren aber nicht die einzigen Hindernisse in der Präventionsarbeit. Aber beginnen wir von vorne.

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Moira Alessandra Russo und Dana Menia Cacciator Gonzalez nach der Verleihung des SwissGlobal-Preises 2023.

Sexarbeit jenseits der Tabus

Sex und Arbeit. Die zwei Wörter bezeichnen für die meisten von uns zwei klar getrennte Bereiche. Für Sexarbeiter:innen hingegen gehören sie untrennbar zusammen. Sexarbeit ist harte Arbeit und die meisten üben den Beruf gezwungenermassen aus. Finanzielle Notlagen oder beschränkte Arbeitsmöglichkeiten haben sie in die Erotikbranche gebracht. Hier können sie ohne eine weitere Ausbildung schnelles Geld erwerben. Mental und körperlich wird jedoch viel von ihnen verlangt. Und auch die Sprache kann sich als weitere Herausforderung erweisen.

Sprachliche Hürden und die Realität für Sexarbeitende

Stellen wir uns das einmal so vor: Wir reisen für unsere zweiwöchigen Sommerferien in ein fremdes Land. Wir beherrschen die Landessprache zwar nicht, können uns jedoch mit Händen und Füssen oder mithilfe anderer Sprachen – zum Beispiel Englisch – einigermassen verständigen. Empfehlungen für Ausflüge erfragen wir im Hotel an der Rezeption. Viel komplizierter wird es in der Regel nicht. Soweit alles im Rahmen, oder? Denn nach zwei Wochen fliegen wir wieder nach Hause, zurück in unser gewohntes Umfeld.

Anders sieht es aus, wenn wir im Ausland eine Arbeitsstelle antreten. Dann helfen Tourismusbüro und Reiseführer nur noch wenig, insbesondere, wenn wir die Sprache nicht beherrschen und unsere Bezugspersonen meilenweit entfernt sind. Früher oder später sind wir mit rechtlichen, administrativen und sozialen Fragen konfrontiert. Dann funktionieren die Lösungen für die Ferien nicht mehr. Das ist bei Sexarbeitenden nicht anders. An dieser Stelle kommt die „Isla Victoria“ ins Spiel.

Unsere Bachelorarbeit: Erfolgreiche Präventionsgespräche mit Sexarbeiter:innen – trotz sprachlicher Hindernissen

Im Rahmen unserer Bachelorarbeit haben wir untersucht, wie Mitarbeiter:innen der Isla Victoria in ihren Gesprächen mit den Sexarbeiter:innen mit der Sprachenvielfalt umgehen, um erfolgreiche Präventionsarbeit zu leisten. Unsere Gründe für die Arbeit:

  • Der Kanton Zürich verzeichnet gemäss BAG einen Anstieg an sexuell übertragbaren Krankheiten in der Erotikbranche. Eine Verbesserung der Prävention ist deshalb notwendig (s. Protokoll des Regierungsrats des Kt. Zürich). Die Isla Victoria ist dabei eine wichtige Beratungs- und Präventionsstelle.
  • Prävention findet vor allem in der mündlichen Kommunikation statt, im direkten Austausch mit den Sexarbeitenden z.B. bei ärztlichen Untersuchungen. Doch wie kommuniziert man fundiertes Gesundheitswissen, wenn mehr als die Hälfte der betroffenen Personen über geringe bis keine Deutschkenntnisse verfügen?

Mit unserer Bachelorarbeit wollten wir einerseits auf die Handhabung von Beratung und Behandlung in einem gesundheitlichen und gleichzeitig kulturell vielfältigen Bereich aufmerksam machen und andererseits die funktionierende Beziehung zwischen der Isla Victoria bzw. dem Ambulatorium und den Sexarbeitenden aufzeigen.

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Dana und Moira super fokussiert beim Schreiben ihrer Bachelorarbeit.

Gesellschaftlich relevantes Wissen über Präventionsgespräche

Erinnern wir uns an unser Beispiel. Die Sexarbeiter:innen können nur auf Umwegen mit Einheimischen kommunizieren. Aber: Sie brauchen wichtige Information, um gesund zu bleiben. Diese müssen sie sachgetreu verstehen. Die Folgen eines Missverständnisses wären im gesundheitlichen Zusammenhang fatal.

Die Herausforderung der Isla Victoria liegt also darin, den Sexarbeiter:innen komplexe gesundheitliche Sachverhalte zu vermitteln, ohne sich auf Mandarin, Polnisch, Spanisch, Ungarisch, Italienisch, Thailändisch, Russisch usw. ausdrücken zu können – fliessend wohlgemerkt. Die Liste der Sprachen wäre noch deutlich länger, wollten wir die gesamte sprachliche Vielfalt der Sexarbeitenden in der Schweiz abbilden.

Methoden der Untersuchung

Um die sprachlichen Herausforderungen in einem Präventionsgespräch und deren Bewältigung zu untersuchen, haben wir zwei Methoden kombiniert.

  1. Ein exploratives Expert:innen-Interview: Das explorative Interview eignet sich vor allem für Forschungsbereiche, in denen es erst wenig Forschungsliteratur gibt, was bei uns der Fall war. Es ermöglicht, von Expert:innen als Repräsentant:innen für alle Spezialist:innen spezifische Antworten zu einem Thema zu erhalten.
  2. Eine Feldbeobachtung: Hier war es wichtig, innerhalb eines Nachmittags so viele Daten wie möglich zu sammeln.

Die beiden Methoden ergänzten sich perfekt. Expertinnen-Interview und Feldbeobachtung konnten wir am gleichen Tag durchführen, und so die Aussagen aus dem Interview direkt überprüfen.

Für unsere Bachelorarbeit sprachen wir mit einer Expertin, die in einem gynäkologischen Ambulatorium täglich mit Sexarbeiter:innen zu tun hat und dabei auf sprachliche und andere Hindernisse stösst. Zudem begleiteten wir zwei Mitarbeiterinnen der Isla Victoria in Kontaktbars und Erotikbetriebe. Dort beobachteten wir sie bei ihrer Präventionsarbeit mit Sexarbeiter:innen. Anschliessend transkribierten wir das Interview und schrieben unsere Beobachtungen so genau wie möglich nieder.

Analyse der gesammelten Daten aus Expert:innen-Interview und Präventionsgespräche

Für die Analysen verwendeten wir ein für uns neues Tool namens MAXQDA. Ein äusserst praktisches Tool für eine induktive Inhaltsanalyse nach Mayring. Dafür teilten wir alle Aussagen, welche relevant für unsere Fragestellung waren, in Kategorien ein. Zum Beispiel lautete eine der Kategorie «Nonverbale Kommunikation», in die wir alle Aussagen des Interviews und des Feldbeobachtungsprotokolls einstuften, in denen Mitarbeitende während eines Präventionsgesprächs nonverbale Kommunikation verwendeten. So gingen wir Satz für Satz vor und erstellten folgende neun relevante Kategorien:

  1. Sexarbeitende und äussere Einflüsse
  2. Sprache und Einfache Sprache
  3. Sprachbarrieren und Hilfsmittel zur Bewältigung
  4. Nonverbale Kommunikation
  5. Kommunikative Herangehensweise der Mitarbeitenden
  6. Herausforderungen der Kommunikation
  7. Misslungene Kommunikationssituationen
  8. Aufsuchende Prävention
  9. Präventionsgespräch im gynäkologischen Ambulatorium

Darauf basieren unsere Ergebnisse und Interpretationen. Harte Knochenarbeit, doch über die Endergebnisse sind wir dann doch etwas stolz.

Die Ergebnisse: Ein Lächeln schafft mehr als tausend Worte

Die Ergebnisse aus Expertinnen-Interview und Feldbeobachtung haben uns Folgendes gezeigt: Die Vielfalt der Sexarbeitenden in der Region Zürich erfordert ein differenziertes Vorgehen. Einige von ihnen sind gut integriert und vertrauen Organisationen wie der Isla Victoria, um Unterstützung bei gesundheitlichen und sozialen Problemen zu erhalten. Andere hingegen sind aufgrund traumatischer Erfahrungen misstrauisch. Für ein Präventionsgespräch müssen hier nicht nur die sprachlichen Herausforderungen gemeistert werden. Viel wichtiger ist der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu diesen Sexarbeitenden. Eine solche schaffen die Mitarbeitenden der Isla Victoria durch ihre fachlichen und sozialen Kompetenzen. Sie stereotypisieren nicht und pflegen den Kontakt zu den Sexarbeiter:innen aktiv. Sind die sprachlichen Möglichkeiten erschöpft, greifen sie auf nonverbale oder paraverbale Kommunikation zurück und schaffen so – sprachunabhängig – beispielsweise mit einem Lächeln die Grundlage für Behandlungen und Betreuung.

Nur durch Vertrauen kann ein Präventionsgespräch erfolgreich geführt und können weitere Gespräche eingeleitet werden – und das erfordert Zeit und Geduld. Zusätzlich zu unserer Ausgangsfrage konnten wir also noch einen viel wichtigeren Aspekt eines Präventionsgesprächs herausarbeiten.

Herausforderungen und Wünsche bei der Untersuchung

Gern hätten wir auch ein Interview direkt mit einem:einer Sexarbeiter:in geführt. Jedoch wäre kaum möglich gewesen, dass zwei fremde Studentinnen ein Interview mit einem:einer Sexarbeiter:in durchführen dürfen.

Und: Wir hätten gern Aufnahmen der Beobachtung gemacht, doch das hätte gegen den Patient:innenschutz verstossen. Auch wären Sexarbeitende vermutlich nicht gefilmt werden wollen. Die Fachliteratur zu unserem Thema war sehr beschränkt. Das forderte uns anfangs recht heraus. Jedoch erwies sich dies zugleich als vorteilhaft, denn so konnten wir unsere eigenen Daten sammeln und etwas ganz Neues, Unerforschtes untersuchen.

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Dana und Moira nach der Abgabe ihrer Arbeit super entspannt vor dem ZHAW Departement Angewandte Linguistik.

Und das Beste zum Schluss

Bereits seit drei Jahren, während unseres ganzen Bachelorstudiums in Mehrsprachiger Kommunikation, haben wir immer wieder Gruppenarbeiten zusammen gemeistert. So wundert es uns nicht, dass unsere Zusammenarbeit bei der Bachelorarbeit reibungslos funktioniert hat. Uns hat es sehr viel Spass bereitet, die Isla Victoria am 18.04.2023 zu begleiten und mit ihnen in eine völlig neue Welt eintauchen. Die Selbstverständlichkeit, wie sie mit den Sexarbeitenden sprechen und wie wichtig diese Organisation für Sexarbeitende ist, hat uns das Herz erwärmt. Dabei hat uns überrascht, wie gut wir selbst mit diesen unbekannten Situationen umgehen konnten.

Wir sind sehr dankbar, dass wir einen Einblick in diesen Winkel der Gesellschaft erhalten und ein Verständnis für das Leben der Sexarbeiter:innen in Zürich entwickeln durften. Wir freuen uns insbesondere, dass wir dieses Thema auch euch näherbringen konnten und dadurch auf die wichtige Rolle der Isla Victoria aufmerksam machen können.


Informationshinweis zum Bachelor Mehrsprachige Kommunikation

Die Bachelorarbeit von Moira Alessandra Russo und Dana Menia Cacciator Gonzalez wurde von Prof. Dr. Ulla Kleinberger betreut und ist im Rahmen des Seminars “Gesundheitskommunikation” entstanden.

Die Swiss Global Language Services AG würdigt mit ihrem Preis methodisch und sprachlich hervorragende Bachelorarbeiten, die im Rahmen der Angewandten Linguistik einen innovativen Beitrag zu wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell relevanten Fragestellungen leisten. Der mit 2500 CHF dotierte Preis wird seit 2022 für die beste Abschlussarbeit im Bachelor Mehrsprachige Kommunikation der ZHAW vergeben.


Mehrsprachige Kommunikation studieren – feat. Hazel Brugger

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Im Bachelor Mehrsprachige Kommunikation bildet das IUED Institut für Übersetzen und Dolmetschen Sprachinteressierte zu Sprach- und Kommunikationsprofis aus, die sich souverän zwischen Sprachen, Kulturen und Domänen bewegen. Das Studium mit den Vertiefungen Mündliche Kommunikation & Sprachmittlung, Multimodale Kommunikation & Translation sowie Fachkommunikation & Informationsdesign qualifiziert Studierende für die Arbeit in der Language Industry sowie in nationalen oder internationalen in Organisationen und Unternehmen, in denen professionelle Mehrsprachigkeit gefragt ist.

Berufliche Perspektiven mit dem Bachelor Mehrsprachige Kommunikation:

  • Projekt-Manager:in
  • Content-Manager:in
  • Copywriter:in
  • Sprachmittler:in
  • Technische:r Redakteur:in
  • UX-Writer:in

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