«Spannende Storys stecken meist in stummen, historischen Quellen»

Historisches Storytelling ist die Kunst, Geschichtswissenschaft und Journalismus so zu verbinden, dass Vergangenes lebendig wird – und zwar so, dass es die Leser:innen im Heute bewegt. Journalismusprofessor Vinzenz Wyss und Historiker und Publizist Helmut Stalder sprechen im Interview darüber, wie Ereignisse aus der Geschichte wirkungsvoll in der Öffentlichkeit kommuniziert werden und wie man das in vier Tagen erlernen kann.

Autorin: Lara Attinger

Das IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft bietet Ende November einen Kurs an, der an vier Tagen vertieft, wie Ereignisse aus der Geschichte wirkungsvoll in der Öffentlichkeit kommuniziert werden. Inwiefern unterscheidet sich historisches Storytelling von herkömmlichem Storytelling?

Vinzenz Wyss: Storytelling ist für mich ein Buzzword, mit dem eine Erzählform propagiert wird, die in der Rezeption besonders gut anschlussfähig ist, weil sie effizient die Interpretation eines kommunizierten Sachverhalts steuert. Beim historischen Storytelling wird die Komplexität von historischem Wissen reduziert, indem sie in eine narrative Erzählstruktur gegossen wird.

Helmut Stalder: Historisches Storytelling soll Geschichte lebendig werden lassen. Die spannenden Storys stecken meist in stummen historischen Quellen, Briefen, Aufzeichnungen, Dokumenten, Archivmaterialien, alten Bild- und Tondokumenten, die man zum Sprechen bringen will. Dazu braucht es die Fähigkeit zur Interpretation und spezielle Erzählstrategien und Darstellungsmethoden. Es geht vor allem darum, Abstraktes anschaulich zu machen und Sinnzusammenhänge zu stiften.

Was sind häufige Fehler, die in der Praxis bei historischem Journalismus gemacht werden?

Helmut Stalder: Geschichtsjournalismus bewegt sich zwischen Geschichtswissenschaft und Journalismus, soll also gleichzeitig wissenschaftlichen und journalistischen Standards genügen. Die Darstellung muss historisch korrekt sein und zugleich die Ereignisse so verständlich und plastisch erzählen, dass sie beim Publikum ankommen. Die Hauptaufgabe ist die Vermittlung von Vergangenheit. Man sollte die Vergangenheit nicht in Form einer langweiligen akademischen Abhandlung erzählen. Man darf aber auch nicht blumig drauflos fabulieren, denn es geht immer noch um die Darstellung von Realität, wenn auch einer vergangenen Realität.

Vinzenz Wyss: Ich beobachte als Journalismusprofessor im Geschichtsjournalismus oft die gleichen Fehler wie im Wissenschaftsjournalismus: Man klebt zu stark an der gängigen wissenschaftlichen Wissensvermittlung und schöpft zu wenig die Möglichkeiten der journalistischen Inszenierung aus. Der journalistische Relevanzbegriff und Zugriff ist jedoch viel offener als der geschichtswissenschaftliche.    

Was sind die Hauptfaktoren für ein erfolgreiches historisches Storytelling in Medien und in Organisationen?

Helmut Stalder: Sachverstand im historischen Gebiet, in dem man sich bewegt. Erkennen, was ein guter Stoff ist. Wissen, wie man Quellen findet, erschliesst und interpretiert. Methodenkompetenz im multimedialen Erzählen in Text, Bild, Audio und Bewegtbild. Es ist eine Kunst, aber lernbar.

Vinzenz Wyss: Hinzu kommt die Fähigkeit der Neukontextualisierung, indem an sich inkommensurable Perspektiven – also etwa das Politische, das Wissenschaftliche, das Wirtschaftliche oder das Moralische trotz ihrer Unvereinbarkeit in der narrativen Struktur gekoppelt werden können. Das Storytelling lässt eben die Sisyphos-Geschichte der vielzitierten Nobelpreisträgerin zu, die insgeheim eine strenggläubige Politikerin war.

Bisher bietet das IAM mit seinen CAS-Programmen und dem MAS-Weiterbildungen an, die wesentlich länger dauern. Weshalb nun dieses kürzere Format?

Vinzenz Wyss: Unsere Strategie am IAM war bisher, uns stärker auf die längeren Formate zu konzentrieren, wie man das eben von der Weiterbildung im Hochschulbereich erwartet. Nun stellen wir aber zunehmend fest, dass unsere Kund:innen aus dem Journalismus und aus der Organisationskommunikation von uns auch kurze, kompakte und intensive Weiterbildungskurse erwarten, in denen das verfügbare Wissen und praktische Erfahrungen von Dozierenden quasi in a Nutshell vermittelt werden. Dies scheint uns in diesem Spezialgebiet des Wissenschaftsjournalismus zu gelingen, weil wir ja auch Teilnehmende ansprechen, die bereits über entsprechende Erfahrung verfügen.

Wer kann vom neuen Kompaktkurs “Public History – Geschichte vermitteln in Organisationen und Medien profitieren?

Helmut Stalder: Er richtet sich an vier Personengruppen, die alle mit der öffentlichen Vermittlung von Geschichte zu tun haben: Journalist:innen aller Medien, die in ihrer Arbeit historische Themen aufgreifen. Kommunikator:innen in Organisationen, Unternehmen, Vereinen, welche die Geschichte ihrer Organisation betreuen und nach aussen darstellen wollen. Mitarbeitende in Kommunikationsagenturen, die solche Aufträge betreuen, etwa im Zusammenhang mit Jubiläen. Und dann auch Historiker:innen, die ihre erzählerischen und darstellerischen Fähigkeiten erhöhen wollen.

Welche Inhalte werden unterrichtet?

Vinzenz Wyss: Wir legen am IAM Wert darauf, die Vermittlung von wertvollem Erfahrungswissen der Referierenden in den Kontext von wissenschaftlichem Wissen zu stellen. Die Vermittlung von praktischem Wissen im Sinne von «how to do» steht natürlich in diesem viertägigen Kurs im Vordergrund; wir bemühen uns jedoch, aus Distanz mit einer theoretisch geschliffenen Brille auf den vermittelten Gegenstand zu blicken.

Helmut Stalder: Konkret erfahren die Teilnehmenden zudem, wie man Geschichten in der Geschichte findet und recherchiert, wie mit Quellen umzugehen ist, wie man zitiert, wie Oral History von Zeitzeugen und Experteninterviews funktionieren. Der Kurs stärkt vor allem die Vermittlungskompetenz auf allen Kanälen, also wie man Texte aufbaut und schreibt, wie man Bilder einsetzt, wie man historische Daten visualisiert, wie attraktive historische Kurzfilme und Podcasts entstehen, wie ein Geschichtsblog funktioniert und wie Corporate History, also Unternehmensgeschichte, publikumsgerecht umgesetzt werden kann.

Nach welchen Methoden wird unterrichtet?

Vinzenz Wyss: Der Kurs findet immer vor Ort hier am IAM in Winterthur statt. Der direkte Austausch zwischen den Expert:innen und den Teilnehmenden, aber auch unter den Teilnehmenden ist uns wichtig. Diese können davon ausgehen, dass die referierten Wissensbestände und Erfahrungen in einem interaktiven Prozess vermittelt werden. So legen wir grossen Wert darauf, dass wir alle das vermittelte Wissen auch auf die praktischen Fälle beziehen, mit welchen die Teilnehmenden gegenwärtig oder in naher Zukunft beschäftigt sind. Dafür haben wir auch Zeit reserviert, weil uns die Umsetzung am konkreten Projekt ein Anliegen ist.

«Die Teilnehmenden werden plötzlich journalistische Geschichten sehen, wo sie vorher keine sahen.»

Prof. Dr. Vinzenz Wyss

Was war Ihnen bei der Konzeption dieses Kurses besonders wichtig?

Vinzenz Wyss: Mich hat dieses spannende Teilgebiet von Wissenschaftsjournalismus und Wissenschaftskommunikation immer sehr interessiert. Zudem beobachte ich, wie in letzter Zeit in der Praxis Formen der journalistischen und kommunikativen Geschichtsvermittlung wie Pilze aus dem Boden schiessen. Als ich dann meinem Freund aus der Studienzeit und ausgewiesenen Fachexperten Helmut Stalder die Konzeption in die Hände legen konnte, war für mich der Mehrwert dieses Kurses klar, wertvolles Erfahrungswissen theoretisch zu rahmen.

Helmut Stalder: Wir legen grossen Wert auf die Praxisorientierung. In allen Gebieten geben ausgewiesene Fachpersonen ihr Wissen weiter und berichten an konkreten Beispielen, wie sie vorgehen und warum: Die Bildredaktorin, der Videoproduzent, die Spezialistin für visuelle Kommunikation, der Podcastproduzent, die Konzernarchivarin, der Blogbetreiber – sie zeigen, wie’s geht.

Auf den Punkt gebracht: Was konkret werden die Teilnehmenden nach diesen vier Tagen wissen oder können, was sie vorher nicht schon wussten oder konnten?

Helmut Stalder: Sie werden ein solides Grundwissen und die handwerklichen Fähigkeiten in Public History mitnehmen, welche sie befähigen, Geschichte in Medien und Organisationen kanal- und publikumsgerecht und vor allem attraktiv und spannend zu vermitteln.

Vinzenz Wyss: Und sie werden plötzlich Ideen für das Journalistische im Historischen haben und journalistische Geschichten sehen, wo sie vorher keine sahen.


Kompaktkurs “Public History – Geschichte vermitteln in Organisationen und Medien”

Der Kompaktkurs “Public History – Geschichte vermitteln in Organisationen und Medien” startet am 15. März 2024.
Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website


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