Der Lokaljournalismus hat Zukunft!

Der Lokaljournalismus hat Zukunft!

Der Lokaljournalismus hat gute Voraussetzungen, um auch in Zukunft seinen Beitrag zur öffentlichen Information und Debatte beizutragen – wenn er sich darauf besinnt, was ihn ausmacht.

Von Guido Keel, Institutsleiter, IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft

Vor sechs Jahren publizierten 22 deutsche Journalismusforscher gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern aus der lokaljournalistischen Praxis ein Sammelband zu Eigenheiten und Zustand des Lokaljournalismus in Deutschland. Das Buch trug den sinnigen Titel: «Das verkannte Ressort». Damit ist schon viel gesagt über den Lokaljournalismus: Verglichen mit dem prestigeträchtigen (Innen-)Politik-Ressort oder dem schillernden Auslandressort, dem dynamischen Sport oder der distinguierten Kulturberichterstattung, gilt der Lokaljournalismus bei Machern und Publikum oft als eine Art Juniorabteilung des richtigen Journalismus: Hier üben die Neulinge, hier bleiben die hängen, die es nicht weiter geschafft haben, in die überregionalen Medien und Ressorts, wo die grossen Geschichten erzählt werden.

Auch in der Medienwissenschaft fristet der Lokaljournalismus ein Mauerblümchendasein. Er ist allenfalls Gegenstand von studentischen Arbeiten oder dient als exotische Nische des Journalismus; die wichtigen Untersuchungen aber befassen sich mit den grossen Zeitungen, mit den Angeboten des Service Public, mit der Berichterstattung zu «Megatrends» wie Migration oder Klimawandel, zu globalen Wirtschaftskrisen oder wenigstens zu nationalen Wahlen. Geschichten aus der Region finden allenfalls dann Aufmerksamkeit, wenn sie exotisch genug sind.

Vor diesem Hintergrund scheint es angebracht, den Lokaljournalismus, seine Funktion, seine Bedeutung und sein Potenzial, zur Abwechslung einmal angemessen zu würdigen, und zwar anhand von drei Thesen. Diese Thesen sind nicht wissenschaftlich erhärtet, sondern das Resultat von jahrelanger Beobachtung des Lokaljournalismus, den Lokaljournalisten und ihrem Publikum:

1. Der Lokaljournalismus ist der journalistischste Journalismus.

Im Journalismus herrscht Zeitnot; das Internet und die Social Media haben diese weiter verschärft. Darunter leidet oft die Recherche: Journalisten folgen den Meldungen der Nachrichtenagentur, oder sie orientieren sich an den News-Portalen anderer Medien und versuchen dann, telefonisch eine weitere Quelle zu finden. Im Lokalen funktioniert das nicht: Keine Agentur berichtet über den Streit der lokalen Bergbahnen oder den Kampf um das Amt des Gemeindepräsidenten. Die guten Geschichten fallen einem nicht einfach zu, sondern bedingen offenen Augen und Ohren in der Region, ein dichtes Netzwerk und persönliche Gespräche. Die lokalen KMUs verfügen selten über Medienstellen, die einem mit professionell aufgemachten Informationen die Arbeit erleichtern; gleichzeitig verschickt jeder Verein und jede Gemeinde unzählige Pressemeldungen, aus denen es die relevanten herauszufiltern gilt.

Hat man so seine Geschichten beisammen und publiziert sie in der nächsten Ausgabe, ist es damit nicht getan: Im Gegensatz zum Bericht über den Bundesrat oder über die Konzernchefs von internationalen Unternehmen berichtet der Lokaljournalismus über die Menschen und für die Menschen, denen man am nächsten Tag wieder auf der Strasse begegnet. Der englische Premierminister Boris Johnson wird sich kaum melden, wenn man ihn in einem Zeitungskommentar in die Pfanne haut; die Reaktion der Gemeindepräsidentin ist aber so sicher wie unmittelbar, wenn man ihr Wirken kritisch durchleuchtet. Und während der Bevölkerung die Parlamentsdebatten in Bern oft einigermassen egal sind, hat jeder im Dorf eine Meinung zur Diskussion an der letzten Gemeindeversammlung. Das verlangt im Lokaljournalismus – wohl mehr als in jedem anderen Ressort – ein Gespür für gute Geschichten, exaktes Arbeiten und eine professionelle Haltung, um mit Kritik aus dem Publikum umgehen zu können.

2. Der Lokaljournalismus ist der relevanteste Journalismus.

Es mag an- oder aufregend, unterhaltsam oder entrüstend sein, was man über Donald Trump in den Medien erfährt, aber einen Einfluss auf unseren Alltag hat es kaum. Ob die Jahresgewinne von UBS und CS nach oben oder unten ausschlagen, ist zwar Futter für viel Diskussion unter Fachleuten, aber die lokalen Arbeitsplätze hängen nicht davon ab. Es gehört zur Grundausstattung eines aufgeklärten Zeitgenossen, Bescheid zu wissen darüber, was in der Welt geschieht. Aber was uns auch wirklich betrifft, sind die Entwicklungen im unmittelbaren Umfeld. Der Klimawandel ist global, die Urbanisierung der Gesellschaft ebenso, aber was das für meine Lebenswelt, meine Familie, mein zu Hause bedeutet, das erklärt mir nur der Lokaljournalismus.

3. Der Lokaljournalismus ist der vielversprechendste Journalismus.

Der Journalismus steckt in der Krise und muss sich neu erfinden. Dazu experimentieren die grossen Medienhäuser mit neuen Plattformen und Nutzungsmodellen, oft basierend auf technischen Innovationen. Auf zeitgemässe Kanäle ist auch der Lokaljournalismus angewiesen; an Social Media kommt auch er nicht vorbei. Neben den technischen Entwicklungen muss sich der Journalismus aber auch in seinem Selbstverständnis weiterentwickeln. Medien haben ihre Kanzel verloren, von der sie zum uninformierten Volk predigen. Vielmehr befinden sie sich auf Augenhöhe mit ihrem Publikum, dem erstens eine unendliche Vielzahl an Informationsquellen zu Verfügung stehen, und das sich nicht mehr über abstrakte Zusammenhänge belehren lässt, sondern darüber informiert werden möchte, wovon es direkt betroffen ist. Dieses Bedürfnis erfüllt nur der Lokaljournalismus. Er weiss, was den Menschen im Alltag beschäftigt, wo im Dorf der Schuh drückt. Wenn der Journalismus irgendwo sein Informationsmonopol bewahren kann, dann im Lokalen, wo es oft keine andere Möglichkeit gibt, sich darüber zu informieren, was im unmittelbaren Umfeld läuft.

Der Lokaljournalismus muss sich dem Medienwandel genauso stellen wie alle anderen Formen und Gattungen des Journalismus. Die Digitalisierung, die individualisierte Mediennutzung die Abwanderung der Werbeerträge an nicht-journalistische Anbieter betrifft auch den Lokaljournalismus. Gewisse Dinge bleiben aber auch gleich: Menschen haben immer noch das Bedürfnis zu erfahren, was unmittelbar um sie herum geschieht. Sie möchten sich dazu immer noch von Profis informieren lassen, die über die Zeit und das Know-how verfügen, um Informationen zu beschaffen, zu prüfen und verständlich darzustellen. Der Lokaljournalismus hat deshalb gute Chancen, die Umwälzungen in der Medienlandschaft zu überstehen. Der Lokaljournalismus muss dabei alles daran setzen, um so journalistisch und relevant zu bleiben, wie er von Natur aus ist. Er muss sein Publikum so gut kennen, dass er imstande ist, auf veränderte Informations- und Mediennutzungsbedürfnisse einzugehen. Er muss sich dazu vielleicht auch von liebgewonnenen Routinen und Einstellungen verabschieden, seine Rolle und seine Form hinterfragen, neue Kooperationen eingehen, neue Vermittlungsformen finden. Vielleicht findet der Lokaljournalismus in Zukunft nicht mehr in einer täglich erscheinenden Zeitung statt, sondern auf einer lokalen Online-Plattform, einer Art Lokal-Facebook, während die besten Geschichten einmal pro Woche in gedruckter Version ihr Publikum erreichen. Vielleicht ist der Lokaljournalismus nicht mehr vor allem Berichterstattung, sondern Dialog. Eine Krise, wie sie der Journalismus erlebt, ist nie angenehm; die Kombination aus ökonomischer und ideeller Krise noch weniger. Der Lokaljournalismus kann aber gestärkt daraus hervorgehen, wenn sich die Lokaljournalistinnen und Journalisten darauf besinnen, was ihre Aufgabe im Lokalen ausmacht, und wenn sie die Mittel dafür erhalten, diese Aufgaben wahrzunehmen.

Zweitpublikation. Erstpublikation im “Werdenberger & Obertoggenburger” vom 11. Dezember 2019


Guido Keel ist Leiter des Instituts für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW in Winterthur, an dem unter anderem zukünftige Journalistinnen und Journalisten ausgebildet werden. Er beobachtet den Journalismus seit über 20 Jahren aus Sicht der Wissenschaft, und war vorher, während seines Studiums, selbst als Lokaljournalist für die «Zuger Nachrichten» tätig.


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