Von wegen Vertrauenskrise!

Die Populisten machen es vor: In der politischen Kommunikation ist gut beraten, wer die Routinen, Selektionskriterien und Narrative der Medienschaffenden studiert und verinnerlicht. Der Nachrichtenfaktoren-Katalog von Winfried Schulz bietet dazu einen bewährten Orientierungsrahmen. Beim Nachrichtenfaktor „Stereotypie“ zum Beispiel zeigt sich in der Praxis: Je besser Informationen in die Deutungsmuster der Journalisten passen, desto eher werden sie aufgenommen und entsprechend interpretiert. Eine kritische Betrachtung.

von Michael Wiesner, Kommunikationsleiter economiesuisse und Gastdozent im CAS Politische Kommunikation am IAM

Für einen kurzen Augenblick stand die Welt Kopf. Und die Kommentatoren übertrumpften sich gegenseitig mit scharfsinnigen Analysen. Zum Beispiel der Chefredaktor der Aargauer Zeitung: Das «Nein» des Stimmvolkes zur Unternehmenssteuerreform III sei «Ausdruck eines folgenschweren Vertrauensverlustes». Das Vertrauen in «die da oben» sei auch hierzulande erschüttert. Und mehr noch als das Nein müsse der liberalen Schweiz diese zugrunde liegende Vertrauenskrise zu denken geben.

Der Chefredaktor der «Blick»-Gruppe sagte es volksnäher: «Das ist nicht nur eine Willensbekundung der Bevölkerung. Das ist ein Beben, ein Akt des Misstrauens, ein Aufstand gegen die Eliten!» Die Stimmbürger «haben dem gesamten bürgerlichen Establishment der Schweiz das Vertrauen aufgekündigt.»

Auch die «Neue Zürcher Zeitung» verortete das Abstimmungsergebnis im «argen Vertrauensverlust». Es offenbare einen Konflikt zwischen «denen da oben» und dem Mittelstand, liess Politologe Thomas Milic die «20 Minuten»-Leser wissen. Vorbei seien die Zeiten, in denen man der Wirtschaftselite blind Glauben schenkte.

Ein happiges Fazit. Immerhin ist Vertrauen in der politischen Kommunikation mehr als nur «ein Mechanismus zur Reduktion der Komplexität» (Luhmann). Das wäre bei dieser «wahrscheinlich kompliziertesten und am stärksten verästelten Gesetzgebung, die je in der Schweiz zur Abstimmung kam» (NZZ) aber schon viel gewesen. Vertrauen ist für politische Akteure gewissermassen das, was die Kapitalisierung für börsenkotierte Unternehmen bedeutet. Vertrauensverlust bedeutet für sie den Bankrott.

Zurück zu den Kommentatoren: Sie haben den Deutungsrahmen der Referendumsführer übernommen. Diese hätten die Vorlage als «Volk-Elite-Konflikt» aufgeladen, konstatierte das Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög). Deutungen dieser Art fielen bei den Medien auf fruchtbaren Boden; die Zeit dafür war günstig. Im Vorfeld der Abstimmung zogen auf dem internationalen Parkett zwei einschneidende Ereignisse die mediale und politische Aufmerksamkeit auf sich: der Brexit-Entscheid im Juni 2016 und die US-amerikanischen Wahlen fünf Monate später. Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten mag ein Misstrauensvotum gegen das Establishment gewesen sein, der Brexit ein Aufstand des Volkes gegen die Eliten. Aber die USA und UK sind nicht die Schweiz. Ein Faktencheck kann Klarheit schaffen.

War das Nein des Stimmvolks also Ausdruck eines generellen Verlustes des Vertrauens in Bundesrat und Wirtschaft? Nein, war es nicht. Sagt die Voto-Studie (ehemals Vox), die das Stimmverhalten nach der Abstimmung vom 12. Februar 2017 untersucht hat. Mitautor der Studie: der gleiche Thomas Milic, der noch einen Monat vorher von einem Elite-Basis-Konflikt sprach. Das allgemeine Vertrauen in den Bundesrat sei unter den Stimmenden nach wie vor (vergleichsweise) hoch und seit der ersten Voto-Erhebung vom September 2016 unverändert. Es habe zudem keine signifikante Rolle beim Stimmentscheid gespielt. Auch könne kaum von einem offenen Misstrauen gegenüber der Wirtschaft die Rede sein.

Zum gleichen Schluss kommt das Center für Security Studies der ETH Zürich. Es befragt die Bevölkerung jedes Jahr nach ihrem Vertrauen in die Institutionen. Ergebnis: Bundesrat und Wirtschaft stehen seit vielen Jahren relativ gut da. Nur Polizei und Gerichte geniessen ein noch grösseres Vertrauen. Der Wirtschaft vertrauen die Schweizerinnen und Schweizer heute mehr als vor 20 Jahren.

Entgegen den medialen Befunden ist das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Landesregierung und die Wirtschaft also durchaus intakt. Aber Vertrauen ist kein Geschenk, sondern eine Verpflichtung.

Übrigens: Am Ende der Vertrauensskala stehen mit deutlichem Abstand die politischen Parteien und die Medien. Hier ist das Vertrauen in den vergangenen 20 Jahren praktisch konstant (tief) geblieben.

Die Leistung der Medien sollte uns noch aus einem anderen Grund zu denken geben. Bisher galt: Je intensiver die Medien über ein Thema berichten, desto bedeutender ist es in der Wahrnehmung des Publikums. Das lehrt uns auch das Agenda-Setting-Modell. Im Fall der Unternehmenssteuerreform III hat es versagt. Vor der Abstimmung hat das Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) in den Schweizer Medien 679 Beiträge zur Steuerreform gezählt –viele davon waren kontrovers und emotional aufgeladen. Zur Einbürgerungsvorlage, über die wir gleichzeitig abgestimmt haben, zählten die fög-Forscher nur 235 Beiträge. Die Steuerreform war für die Medien alsoklar bedeutender als die Einbürgerungsvorlage. In der Wahrnehmung des Publikums war es umgekehrt.

Traditionell gehört ja das kritische Hinterfragen von gängigen Denkmustern zu den unschätzbaren und unverzichtbaren Leistungen des unabhängigen Journalismus in der demokratischen Gesellschaft. Das Hinterfragen der eigenen Denkmuster sollte dabei nicht ausgespart bleiben.


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