von Hansjörg Enz, Dozent am IAM
„Darf ich Ihnen meine Mutter vorstellen?“, fragt eine Studentin. „Aber klar, freut mich!“ Und auch wenn sie sie mir nicht vorgestellt hätte, auf den ersten Blick wäre klar geworden, dass das ihre Mutter sein muss. Eine stolze Mutter. Eine der vielen stolzen Mütter, Väter, Geschwister, Freunde, die gekommen sind, um mitzuerleben, wie ihre Rebecca, ihr Simon den Casino-Saal als Studierende betritt und als Studierte mit einem Bachelordiplom in Kommunikation verlässt.
Und so treffen sie sich vor dem Casinotheater Winterthur, sind aufgekratzt, lachen, umarmen sich, wie jedes Jahr. Ich kenne ihre Gesichter, von wenigen die Namen, weil mein Namensgedächtnis nur noch schlechter wird. Ich habe sie immer wieder gesehen die letzten Jahre, im Unterricht, im Praktikum, in der Cafeteria. Vielleicht war ich sogar mitschuldig, dass die am IAM studieren konnten, vielleicht mussten sie bei mir zum Eignungstest antreten.
Aber etwas ist anders heute. Statt enge Jeans, Sneakers, die Haare ungekämmt nach langer Nacht, sind alle fein hergemacht. Die Herren in Anzügen, manche sogar mit diesen merkwürdigen Dingern um den Hals – Krawatten, dem wohl unnötigsten Kleidungsstück, das die Männerwelt erfunden hat. Und das nur, weil sich kroatische Soldaten im 17. Jahrhundert so etwas um den Hals gebunden haben, daher Kroate – Krawatte (so, da hat wieder mal der Dozent in mir durchgeschlagen). Und die Damen – ein herrlicher Anblick: wohlfrisiert, dezent geschminkt, in einem modischen Kleidchen und gar manche auf hochhackigen Schuhen. Und dann schadenfreut man sich schon auf den Moment, wo sie auf den hohen Absätzen die fünf Stufen erklimmen müssen, um auf der Bühne ihr Diplom entgegenzunehmen.
Diplome holen und Lebenspartner finden
Und dann wird’s dunkel im Saal und das Ritual Diplomfeier nimmt seinen bewährten Gang. Auftritt Professor Daniel Perrin, Erfinder dieses erfolgreichen Studienganges. Bei der ersten Diplomierung vor über 10 Jahren trug er noch eine Spitzbubenfrisur, jetzt die angegrauten Haare zu einem Zöpfchen gebunden. Und er setzt an zu einer seiner gewähltwortigen Kurzansprachen, von denen man nicht weiss, sind sie gut geübt, so dass sie spontan erscheinen oder sind sie wirklich spontan. „Wie in der Vorlesung“, sagt Basil Höneisen, der Moderator des Abends neben mir. Er wird seine Sache sehr gut machen, ist ein Moderationstalent, eine Art unverbrauchter alpiner Sven Epiney, statt Tuxedo, brauner Kittel, statt aufgesetzter Fröhlichkeit (noch) ganz natürliches Auftreten, als hätte er schon immer da oben gestanden. Weiter so. Und es gibt noch weitere Moderationstalente auf der Bühne zu erleben am Abend, zum Beispiel Katharina Krämer, Co-Leiterin des Studienganges, die neckisch bemerkt, dass am IAM nicht nur Diplome geholt, sondern auch Lebenspartner gefunden werden. Sie spricht aus Erfahrung.
Vom Happy Jazz zu Skandal überall
Sie wird zusammen mit André Schibli die Diplome übergeben an 87 Studierende. Und auf der Bühne zwischen den Programmteilen immer wieder die Diplomband des Abends. Auch das hat sich entwickelt über die Jahre, ist zu einem Ritual geworden. In früheren Jahren hat die Combo eines ZHAW-Professors die Feier umrahmt mit Happy Jazz. Dann haben die Verantwortlichen gemerkt, dass das vielleicht nicht ganz die Musik ist der Leute, die auf der Bühne ihr Diplom erhalten. Und seither finden sich jedes Jahr ein paar Studierende zu einer Diplomband zusammen. Und sie interpretieren Songs, die sie gut finden. Ein Stück hat mich berührt. Freedom von Benjamin Siksou.
Ich habe das Glück gehabt, bald 65 Jahre in einem Land zu leben, wo wirklich Friede herrscht, wo die Menschen miteinander reden, gemeinsam Lösungen finden, wo lange Zeit keine Angst herrschte, sondern Vertrauen in die Konsensfähigkeit von Politik und Gesellschaft. Ich fürchte, dass sich das ändert. Es wird Angst gesät, es werden Schuldige gefunden, der Zusammenhalt, die Solidarität im Land nimmt ab. Der Journalismus spielt dabei eine wichtige Rolle. Ich habe mit der Diplomband eines meiner Lieder dargeboten „Skandal überall“. Es befasst sich mit der Art und Weise, wie Medien und Gesellschaft Non-Events wie die Selfies des Stadtpräsidenten von Baden zu Skandalen hochstilisieren. Sie werden von den Medien und dem Publikum eingehender diskutiert als wichtige Themen wie Familienpolitik, Migration oder unser Verhältnis zum Rest der Welt. Diskussionen darüber erschöpfen sich in Abwehr und Slogans wie „frei bleiben“.
Diplomfeier als kollektives Ritual
In solchen Zeiten ist es wichtig, Rituale zu haben wie solche Diplomfeiern. Denn Rituale sind für Übergänge immens wichtig – und zwar nicht nur kollektiv für den Zusammenhalt der Gemeinschaft, sondern auch für die Psyche des Einzelnen. Sie schaffen Nähe, Gemeinsamkeit, Orientierung im Umbruch, der Angst machen oder sogar eine Krise mit sich bringen kann. Diese klugen Worte stammen nicht vom mir, sondern von Professorin Birgitt Röttger-Rössler von der Freien Universität Berlin. Und ich zitiere sie gerne, weil sie mich daran erinnert, dass ich selber vor genau zehn Jahren an der FU Berlin an einer Diplomfeier teilnehmen durfte, die es mir ermöglicht hat, am IAM zu wirken.
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