
Von Flurina Meier
Die diesjährige Schweizerische Public Health Konferenz rückte psychische Erkrankungen ins Zentrum. Besonders die Krise bei Kindern und Jugendlichen wurde – zu Recht – intensiv diskutiert. Doch auch am anderen Ende des Altersspektrums stellen sich drängende Fragen. Laut Fachpersonen führen im Spital vor allem die Kombination von somatischen und psychischen Erkrankungen (inkl. Demenzen) zu grossen Herausforderungen, im Pflegeheim sind es insbesondere Personen mit Verhaltensauffälligkeit, schizoaffektiven Störungen oder Suchterkrankungen.
Versorgungssituation in der Schweiz
Der kürzlich erschienene Nationale Gesundheitsbericht des Obsan beleuchtet viele Aspekte psychischer Krankheit und deren Behandlung. Er weist für die Bevölkerung ab 65 Jahren insgesamt eine gute psychische Gesundheit aus. Der Bericht zeigt jedoch auch auf, dass insbesondere Demenz, Depressionen und Angststörungen bei Hochaltrigen (ab 80-85 Jahren) deutlich zunehmen. Weiter identifiziert er einige Wissenslücken. Diese betreffen beispielsweise ältere Menschen mit schlechtem Gesundheitszustand, welche entweder zu Hause oder im Pflegeheim leben, und Patient:innen mit anderen psychischen Krankheiten wie z.B. Schizophrenie oder Posttraumatische Belastungsstörungen. In beiden Fällen fehlen heute gute Untersuchungen in der Schweiz und international.
Wenige Aussagen macht der Bericht dazu, ob die aktuelle psychiatrische Versorgung der älteren Bevölkerung dem Bedarf entspricht. Hier konstatierten frühere Berichte aus den Jahren 2005 und 2016 Versorgungslücken.
Der erste Bericht zitiert eine in den Jahren 2000 und 2002 im Kanton Baselland durchgeführte Vollerhebung der psychischen Erkrankungen und deren Versorgung in Pflegeheimen. Sie zeigte, dass fast 60% der Pflegeheimbewohnenden einen «Bedarf nach psychiatrischer Abklärung und/oder Behandlung verzeichnet[e]» und die Hälfte Psychopharmaka einnahm. Gleichzeitig waren weniger als vier Prozent des Pflegepersonals bezüglich psychiatrischer Versorgung älterer Personen (sogenannt «gerontopsychiatrisch») geschult.
Der zweite Bericht identifizierte v.a. Probleme im Bereich der Diagnostik, unzureichende Koordination zwischen Spitex, Psychiatrie und Pflegeheimen sowie Lücken in den Pflegeheimen aufgrund von Personalknappheit, mangelnden Fachkenntnissen sowie fehlenden spezialisierten Abteilungen.
Da aktuelle Erhebungen zur Versorgung fehlen, stützt sich unsere Einschätzung heute auf die Aussagen von Fachpersonen. Diese deuten darauf hin, dass sich die Situation seit 2016 nicht grundlegend verbessert hat. Fachpersonen berichten, dass sie z.B. Mühe haben, ältere Menschen mit psychischen Problemen zu platzieren, insbesondere Menschen mit Verhaltensauffälligkeit, schizoaffektiven Störungen oder Suchterkrankung. Für Demenzerkrankte gibt es seit längerem spezialisierte Pflegeheime oder -Abteilungen, aber für Personen mit psychiatrischen Erkrankungen fehlt heute vielerorts eine spezifische Langzeitversorgung.
Mögliche Lösungen
Einige Regionen haben auf die Situation reagiert. Die Stadt Zürich hat zum Beispiel mehrere Pflegeheime bzw. -abteilungen auf die Betreuung psychisch erkrankter älterer Menschen spezialisiert. Diese sind medizinisch und pflegerisch auf die Versorgung von älteren Personen mit psychischen Erkrankungen ausgerichtet. Erste, sehr alte und methodisch schwache Evidenz weist darauf hin, dass spezialisierte Pflegeheime zu weniger Notfall– und Spitaleinweisungen führen könnten.
In der Spitalwelt gibt es unterschiedliche Versorgungsaufträge: Universitätsspitäler behandeln die schwersten und kompliziertesten Fälle, Kantonsspitäler und Regionalspitäler stellen die breite Gesundheitsversorgung sicher. Ähnlich könnte die psychiatrische Versorgung auch im Bereich der Pflegeheime ausgestaltet werden: Spezialisierte Pflegeheime kümmern sich um die Versorgung der schwersten und kompliziertesten psychiatrischen Fälle und reguläre Pflegeheime stellen die breite Grundversorgung sicher. Dabei ist entscheidend, dass auch in den nicht-spezialisierten Pflegeheimen ausreichendes Know-how zu psychischen Erkrankungen vorhanden ist.
Fazit
Frei nach dem Prinzip „Was man nicht messen kann, kann man nicht lenken» von Peter F. Druckersollte die Versorgungssituation psychisch erkrankter älterer Menschen zuallererst systematisch erhoben werden. Dann sollte die Wirksamkeit und Kosten-Wirksamkeit der Versorgung in spezialisierten Pflegeheimen evaluiert werden. Welchen Einfluss haben diese Einrichtungen auf die Versorgung von psychisch kranken älteren Menschen und auf die umliegenden Leistungserbringer (z.B. somatische und psychiatrische Spitäler, Pflegeheime, Ärzt:innen)? Decken sie heute vorhandene Versorgungslücken ab? Führen sie tatsächlich zu weniger Notfalleinweisungen?
Darüber hinaus ist die strikte Trennung zwischen somatischer und psychiatrischer Versorgung ganz allgemein zu hinterfragen. Mit zunehmendem Alter nimmt Multimorbidität zu, sodass insbesondere bei älteren Menschen somatische und psychische Erkrankungen oft gleichzeitig auftreten. In der medizinischen Gerontologie wurde dies erkannt und die Facharzt-Ausbildung enthält neben somatischen auch psychiatrische Inhalte. Die Verknüpfung dieser beiden Gesundheitsaspekte sollte nicht auf die Altersmedizin beschränkt sein, sondern auch in der Ausbildung der anderen Fach- und Berufsgruppen sichergestellt sein. Denn aufgrund der demografischen Alterung sind ältere Menschen in allen Bereichen des Gesundheitswesens je länger je mehr präsent.
Flurina Meier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Co-Leitung im Team Versorgungsforschung am WIG