Es braucht eine Vision zur Rolle der Krankenversicherer

Quelle:  colourbox.de

Von Matthias Maurer

Die Schweiz hat 1996 das Krankenversicherungsgesetz (KVG) in Kraft gesetzt, welches den Wettbewerb unter den Krankenversicherern festschreibt. Die Absicht der Gesetzgeber war, dass die einzelnen Krankenversicherer neben der Kernaufgabe der WZW-Leistungsprüfung (ist die Leistung wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich?) den neuen Spielraum dazu nutzen, zusammen mit den Leistungserbringern innovative Versorgungsangebote zu entwickeln (z.B. integrierte Versorgungsmodelle).

Heute sieht die Gesellschaft die Krankenversicherer vor allem als „Zahlstellen“: sie ziehen die immer steigenden Prämien ein, hinterfragen die Erstattung der Kosten der Versicherten und sind knausrig bei der Vergütung der Leistungserbringer.

Meines Erachtens sollten Krankenversicherer aber mehr sein als blosse „Zahlstellen“ im Gesundheitswesen. Wie könnte ihre Rolle in Zukunft aussehen?

Zwei Ansätze sind dabei aus meiner Sicht entscheidend: Erstens die Stärkung der aktuellen Aufgabe der Leistungsprüfung und zweitens eine mögliche neue Aufgabe, die mehr Verantwortung für die Krankenversicherer bedeutet.

Effektive WZW-Leistungsprüfung

Damit die Krankenversicherer den im KVG festgeschriebenen Auftrag der WZW-Leistungsprüfung ausführen können und nicht nur als «Krankenkassen» die Kostenerstattung administrieren, ist deren Rolle sowohl gesellschaftlich («Dürfen») als auch organisationsintern («Wollen») zu klären. Folgende Fragen sind zu beantworten: Wie umfassend und strikt soll die Leistungsprüfung ausfallen? Welche Daten (z.B. Diagnosen) sollen sie erhalten und auswerten dürfen? Wie viele Ressourcen (und folglich Verwaltungskosten) können und dürfen aufgewendet werden? Wie kann der Bevölkerung die qualitätsfördernde und kostenstabilisierende Wirkung dieser Rolle kommuniziert werden?

Gewährleistung des Zugangs zu einer angemessenen Versorgung

Die Kantone sind für die Sicherstellung der medizinischen Versorgung verantwortlich. Diese Aufgabe könnte aber auch den Krankenversicherern übertragen werden. In den Niederlanden zum Beispiel müssen die Versicherer – obwohl sie private Unternehmen sind – sicherstellen, dass ihre Versicherten Zugang zu medizinischen Leistungen haben. Dafür kaufen sie die Leistungen ein und verhandeln mit den Leistungserbringern über den Umfang und Qualität der angebotenen Leistungen sowie die Höhe der Vergütung.

Fazit

Mit diesen beiden Aufgaben erhalten die Versicherer eine zentrale Rolle, die über eine reine „Zahlstelle“ hinausgeht. Die Kantone dagegen könnten eine ihrer vielen Rollen im Gesundheitswesen ablegen. Und die Bevölkerung erhielte mehr echte Alternativen und damit Wahlmöglichkeiten. Aber die Umsetzung dieser Vision für die Schweiz ist alles andere als einfach. Selbst in den Niederlanden, wo dieser Ansatz seit vielen Jahren verfolgt wird, stösst er an Grenzen (vgl. dazu den Gastkommentar in der NZZ vom 10.4.2024)

Es ist klar, dass diese Aufgaben neue Fähigkeiten und Ressourcen von den Krankenversicherern verlangen – Fähigkeiten und Ressourcen, die viele Krankenversicherer heute nicht haben. Die Übertragung weiterer Aufgaben würde wahrscheinlich dazu führen, dass es weniger, aber grössere Krankenversicherer gibt.

Meiner Ansicht nach ist es notwendig, eine Vision über die Rolle der Krankenversicherer zu entwickeln. Dazu wird die Schweizer Stimmbevölkerung ja bald Gelegenheit haben, hat die SP doch angekündigt, eine erneute Volksinitiative für eine „öffentliche und soziale Krankenkasse“ [sic!] zu lancieren.

Matthias Maurer ist stv. Institutsleitung des WIG und Leitung Bildung & Gesundheitspolitik am WIG.


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