Das Projekt am Landeskrankenhaus Graz war sehr ehrgeizig. Ein Neubau stand an, eine Notfallambulanz für Kinder sollte komplett neu geplant und errichtet werden. Wer sich jemals mit Bau im Spital beschäftigt hat weiss, wie unglaublich kompliziert das sein kann. In Graz wurde die Komplexität noch gesteigert, indem die neue Ambulanz gemeinsam von zwei bisher getrennten Abteilungen betrieben werden sollte. Zu den baulichen Herausforderungen kommen nun also auch eine Menge menschliche und die Organisationsstruktur betreffende Fragen hinzu. Eigentlich die idealen Zutaten für ein katastrophales Projekt. Doch das Projekt wurde ein grosser Erfolg, die Prozesse im Neubau sind nun effizienter, die Patientenwartezeit stark reduziert, die Mitarbeitenden glücklich. Das Geheimnis des Erfolgs? Ein Bierzelt!
Warum ein Bierzelt?
Warum ein Bierzelt die Probleme lösen kann versteht man erst dann, wenn man die Grundproblematik beim Bau versteht. Vereinfacht gesagt wird klassischerweise ein Neubau von aussen nach innen geplant. Zuerst kommt die möglichst ästhetische Hülle, später werden Mauern im Gebäude eingeplant und somit Räume geschaffen, ganz am Schluss macht man sich Gedanken zur Ausstattung der Räume. Doch dabei vergisst man etwas Entscheidendes: Der Raum ist nur Mittel zum Zweck. Räume sind da, um die internen Abläufe zu unterstützen. Stattdessen klagte mir neulich ein Chefarzt eines Schweizer Notfalls «Der Architekt hat mir für meinen Notfall ein Gebäude in «L»-Form gegeben. Ausgerechnet ein «L», die schlimmste aller Formen, wie soll ich da vernünftig einen Notfall betreiben?». Die Folge von so einem Planungsvorgehen ist, dass Menschen sich viele Jahre lang täglich über den Bau beklagen und höchst ineffizient arbeiten werden.
Es wäre nun sehr einfach, die Schuld auf den Architekten zu schieben. Woher soll er oder sie auch wissen, welche medizinischen/pflegerischen/logistischen Prozesse in einer Klinik stattfinden? Die echten Wissensträger sind doch die Mitarbeitenden selbst, die jeden Tag den Prozess leben. Sie müssten doch selbst definieren, wie die neuen Räume aussehen sollen, um die täglichen Arbeitsläufe reibungslos gestalten zu können. Und diese Definition erfolgt am besten, indem man die Mitarbeitenden selbst die neuen Prozesse physisch simulieren und kontinuierlich verbessern lässt.
Spielerisches Designen in Simulationszonen
Die Design-Thinking Schule empfiehlt dazu sogenannte Simulationszonen, wo im 1:1 Massstab die zukünftigen Räume dargestellt werden. Das geschieht mit einfachsten Mitteln: Ein Strich auf den Boden markiert das Gipszimmer, ein Tisch stellt den Empfangstresen dar, eine mobile Wand aus Karton trennt die Behandlungskojen voneinander. In so einer einfach simulierten Umgebung können die Mitarbeitenden zusammen mit Patienten die Abläufe spielerisch optimieren. Wichtig dabei ist, dass alles mobil ist und sich leicht verändern lässt, damit man leicht Varianten ausprobieren kann. Wenn man während der Simulation merkt, dass die Kojen zu klein sind, wird eben die Kartonwand verschoben und die Simulation neu durchgeführt. Und hier kommt das Bierzelt ins Spiel, denn man braucht durchaus Platz für so eine Simulationszone. Und da das Landeskrankenhaus Graz keinen Platz hatte, wurde kurzerhand auf dem Parkplatz ein 600 Quadratmeter grosses Zelt aufgebaut, wo die Mitarbeitenden die optimalen Prozesse erspielen konnten, bevor auch nur ein einziger Bauplan gezeichnet wurde.
Design Thinking – Pros & Cons
Die Vorteile dieser Innovationsmethode sind mannigfaltig, drei davon sind die folgenden:
- Wir Menschen sind sehr schlecht darin, abstrakte 2D-Pläne zu lesen. Stattdessen im echten 3D-Raum zu agieren, fällt uns um ein Vielfaches leichter.
- Die Reihenfolge des Bauplanungsprozesses ist nun endlich richtig herum. Zunächst legt man den optimierten Arbeitsprozess fest. Erst dann wird die dazu passende Hülle definiert («form follows function»).
- Auch aus Change Management Sicht ist das Vorgehen Best Practice, da die Mitarbeitenden selbst, die später in dem Gebäude arbeiten werden, ihre eigenen Prozesse bestimmt und optimiert haben. Da kann sich später keiner beklagen, jemand von «oben» ohne Ahnung hätte ihnen etwas aufgezwungen. Und als Bonusvorteil: Da im Landeskrankenhaus Graz ja zwei unterschiedliche Abteilungen zusammenarbeiten sollten, konnten sich die beteiligten Personen schon während der Simulationsphase an das gemeinsame Arbeiten gewöhnen. Ein wichtiges Erfolgskriterium, wenn man bedenkt, wie viele Projekte am menschlichen Faktor scheitern.
Nachteile? Alle guten Ideen im Leben haben Nachteile, und diese hat einen: Der Aufwand. Ein BWLer mag vielleicht reflexartig sagen «Mein Gott, was kostet das?». Meine Antwort dazu ist: Nichts im Vergleich zu den Kosten die entstehen, wenn man ein schlechtes Gebäude hat und die Mitarbeitenden die nächsten 40 Jahre während der Gebäudenutzung aufgrund von Planungsfehlern ineffizient arbeiten und die Patienten darunter leiden müssen.
Literatur zum Thema:
- Hollenstein, E., Angerer, A., Liberatore, F., Kriech, S., & Kikel, V. (2018). Innovative Krankenhausprozesse nach dem Design Thinking-Ansatz – Die Potenziale interprofessionell genutzter Simulationszonen. In M. A. Pfannstiel, P. Da-Cruz, & C. Rasche (Hrsg.), Entrepreneurship im Gesundheitswesen III: Digitalisierung – Innovationen – Gesundheitsversorgung (1. Aufl., S. 98–112). Wiesbaden: Springer Gabler. Abgerufen von https://www.springer.com/de/book/9783658184124
- Vetterli, Christoph. und Rüegg, K. (2016). Simulationszone. In A. Angerer (Hrsg.), LHT-BOK – Lean Healthcare Transformation Body of Knowledge, Version 1.0. Winterthur. Abgerufen von www.leanhealth.ch
Danksagung: Herzlichen Dank an V. Kikel vom LKH-Graz und an C. Vetterli von walkerproject für die Interviews zu dieser Fallstudie.
Prof. Dr. Alfred Angerer ist Leiter der Fachstelle Management im Gesundheitswesen am WIG.